Geweiht - Die Bürde des Schwertmeisters [Prolog]
Nirgendwo! Das war die Bezeichnung, die diesem Ort am ehesten gerecht wurde.
Eine abgebrochene Gegend, in die es einen Menschen nur verschlug,wenn er die Einsamkeit suchte. Schneetreiben gab dem Ambiente fast schon etwas Romantisches. Bilderbuchschnee! Dicke, langsam dem Boden entgegengleitende Flocken, die den Beobachter einschläferten und ihm ein trügerisches Gefühl der Ruhe und Sicherheit vermittelten.
Ein Krachen durchbrach die weißen Mauern der Stille. Ein Ast, gebrochen einzig und allein durch die Last tausender Schneeflocken, stürzte zu Boden und hinterließ eine markante Figur im sonst so ebenmäßigen Schnee.
Unsichtbar! Anders war die Gestalt kaum zu beschreiben, die diesem Ereignis keinerlei Beachtung schenkte und völlig reglos inmitten der eisigen Einöde verharrte.
Weiße Stiefel ruhten auf dem Schnee, ohne einzusinken.
Ein einsamer Vogel stimmte sein Klagelied an, als ein weiterer Ast tosend brach und leise zu Boden fiel - doch die Gestalt regte sich noch immer nicht. Sie trug einen langen, weißen Mantel, der dem Hintergrund so exakt glich, dass er praktisch mit ihm verschmolz. Die weißen Stiefel, die wie Federn auf dem Schnee standen, wichen einige Zentimeter unterhalb des Knies einer Hose, die sich nicht von dem Mantel unterscheiden ließ, der erst kurz über den Stiefeln endete. Aus dem Ärmel eben jenen Kleidungsstückes ragten lange, schmale Finger. Das war alles, was man von der Person erkennen konnte.
Endlich regte sich die Gestalt und schritt gemächlich über den Schnee zum Rand des Hains, den er offenbar durchwandert hatte. Er hinterließ keinen Makel im frischen Weiß und sank nicht einmal einen Millimeter ein.
Vor der Gestalt erstreckte sich grenzenlose Leere: Ein Meer aus Schnee und Eis, das irgendwo, hunderte Kilometer entfernt, dem matten, unschuldigen Blau des Himmels wich. Doch irgendwo, mitten in der weißen, lebensfeindlichen Masse, reckte sich ein grauer Felsen gen Himmel. Wie ein trotziger Soldat, der sich einer Übermacht nicht ergeben wollte überragte er den weißen Rivalen und hielt sich tapfer gegen die nachrückenden Schneeflocken, die auch ihn zu einem Verbündeten machen wollten. Genau dieser Fleck war offenbar das Ziel der Gestalt.
Ohne Hast; ganz als wäre sie nicht im Geringsten daran interessiert irgendwo anzukommen. Die Zeit schien für sie keine Bedeutung zu haben. So lange hatte sie schon gewartet. Über tausendzweihundert Jahre hatte sie einen Plan erarbeitet, der so vollkommen und ausgeklügelt, aber dennoch so einfach zu zerstören war. Ein einziger Fehler, eine einzige Unaufmerksamkeit, eine einzige Fehlkalkulation, und alles wäre umsonst gewesen. Dann hatte die Gestalt neuntausendachthundertsiebenundsechzig Menschen grundlos getötet. Sie hatte jeden einzelnen gezählt. Sie hatte einundfünfzig Generationen an Menschen hinter sich, aber an das Töten hatte sie sich nie gewöhnt. Jedes Leben, das sie nahm, war ein Verlust. Ein Verlust, der unwiederbringlich, aber notwendig war. In gewisser Weise dachte die Gestalt wie ein Geschäftsmann. Sie war sozusagen ein Kaufmann für Leben und Zukunft. Wie jedem anderen Wirtschafter ging es ihr um Gewinn, nur das ihrer atmete und lebte. Und um Leben zu retten … musste man Leben investieren. Es gab keine Zinsen auf angelegtes Glück. Entweder man verbrauchte es, oder man starb ohne das Gefühl, ein schönes Leben hinter sich zu haben. So würde die Gestalt einmal sterben.
Der Felsen war bereits größer geworden, doch sonst hatte sich nichts verändert. Gähnende Leere empfing jeden Besucher der verzweifelt genug war hierher zu kommen, nahm ihn in sich auf und gab ihm das Gefühl, unbedeutend zu sein.
Ohne Hast bewegte sich die Gestalt. Wieso sollte sie sich auch beeilen? Hier in der Endlosigkeit einer Welt, die es nur in ihren Vorstellungen gab und die trotzdem so real war, dass man hier seinem Ende entgegenlaufen konnte. Langsam, aber unaufhaltsam näherte die Gestalt sich dem dunklen Fleck mit dem weißen Haupt, und bald konnte sie erkennen, dass es sich nicht um einen Felsen, sondern um eine Hütte handelte. Eine Hütte mitten im Nirgendwo. Eine Hütte, die jedem Architekten einen Herzinfarkt beschert hätte und die dennoch dem lebensfeindlichen Klima widerstand und auch den Schneemassen auf dem Dach standhielt. Fenster gab es nicht, die einzige Tür war halb hinter einem weißen Berg verborgen. Vereistes Holz bildete die Außenwand. Niemals hätte ein solches Gebäude den Mächten des Wetters standhalten können, denen es seit tausend Jahren ausgesetzt war. Eine Macht strahlte der Gestalt entgegen, als sie sich weiter näherte, und veranlasste sie stehen zu bleiben. Seltsames Flimmern erfüllte die Luft um die Hütte, als würde die Luft kochen. Der Besucher hob die Arme. Kurz geschah nichts, dann begann der Schnee vor der Tür der Hütte zu schmelzen. Ganz langsam verflüssigte sich die Masse und offenbarte immer mehr von der, mit Verschnörkelungen und Blattgold überladenen Tür. Sie stand in direktem Kontrast zum Rest, der eher schlichten Behausung. Als sich der Schnee vollständig aufgelöst hatte, nutzte der Wind die Chance, mit aller Kraft auf die Gestalt einzuwirken, die herumwirbelte und die Arme weit vom Körper streckte. Der beißende Wirbel aus Schnee und Luft brauste an ihr vorbei, erfasste sie jedoch nicht. Dröhnen hallte durch die Leere der Eiswüste, als die Natur die Muskeln spielen ließ. Die Gestalt jedoch schien keine Probleme zu haben, sich gegen die gewaltige Macht zu verteidigen, die den Schnee hunderte Meter in die Luft wirbelte. Auch die Hütte hielt stand, obwohl Eisbrocken in Kleinwagengröße gegen die morsche Fassade prallten. Magie strömte durch die Luft. Dann war es plötzlich wieder still.
Die Gestalt ließ die Arme sinken und sah wieder zur Tür: Rote Zeichen glühten im dunklen Holz. Trotz des Sturmes lag kein Schnee vor der Hütte und der Besucher ging auf den Eingang zu, studierte kurz die Zeichen und stieß dann leicht gegen das morsche Holz. Mit lautem Knarren schwang die Tür auf und gab den Blick auf ein altmodisches Zimmer frei, das so groß war, dass es das Einzige in der Hütte sein musste. Der Boden bestand aus grobem Holz, der unter einer dicken Rußschicht verborgen lag. Es war hell, obwohl es keine Lampen gab. Ein Regal mit Schriftrollen verdeckte die vollständige Rückwand des Hauses und auf der linken Seite standen sechs Waffenständer mit je drei Schwertern auf einer Tafel. Stilvoll gebundene Griffe ragten aus den schlichten Scheiden der Wakizashis und den etwas längeren Katanas, den beiden gebräuchlichsten Schwerttypen. Dahinter konnte man einen wuchtigen, kreisrunden Schleifstein erkennen, auf dem zwei dunkelbraune Handschuhe ruhten. Noch weiter hinten kämpfte die letzte Glut ihren Todeskampf in einer Esse, die jeder Schmiede Ehre gemacht hätte. Ihre Steine waren glatt geschliffen und die Ränder mit verschlungenen Symbolen gespickt. Eine Abzugshaube war an künstlerischer Gestaltung kaum zu überbieten. In dem kalten Wasser, etwas abseits der Feuerstelle, ruhte eine Metallstange, die man scheinbar zum Abschrecken dort hineingelegt hatte. Die dunkle Färbung verriet, dass der Versuch gelungen war. Aufgebläht thronte ein blass-gelber Blasebalg auf einem kleinen Absatz vor der Esse.
Die andere Seite der Hütte war weit unscheinbarer eingerichtet und ziemlich unordentlich. Ein großer, massiver Holzschrank hielt die Stellung neben einem Bett, das mit Fellen überladen war.
Alles wirkte wie damals, als die Waffenschmiede zu den verehrtesten Handwerkern gehörten.
Eine plötzliche Bewegung auf dem Bett ließ die Gestalt zusammenzucken. Das, was vorher wie ein Berg Felle gewirkt hatte, erhob sich, und ein Gesicht kam zum Vorschein. Blasse, pergamentdünne Haut spannte sich über Sehnen und Knochen. Bläuliche Adern zeichneten sich deutlich ab, und trübe, blinde Augen starrten dem Besucher entgegen, während sich Nasenflügel wie unter großer Anstrengung blähten. Weißes, dünnes Haar hing in langen Strähnen ungeordnet in das wettergegerbte, von Falten gezeichnete Gesicht.
„Wer ist da?“, stöhnte eine unpassend laute Stimme, die nicht aus dem noch immer verschlossenen Mund des alten Mannes kam, sondern irgendwo aus dem Nichts
„Das wisst Ihr doch bereits“, gab die Gestalt zurück.
„Ja, das weiß ich. Ihr seid die Verzweiflung“
„Ja“, stimmte die Verzweiflung zu und zögerte kurz. „Das bin ich wohl.“
„Das wurde auch langsam Zeit, alter Freund. Das wurde auch langsam Zeit. Ja, das wurde es. Langsam Zeit, alter Freund.“
„Ihr seid alt geworden“, merkte die Verzweiflung an.
„Ja, das bin ich wohl. Das bin ich wohl! Aber auch Ihr seht nicht besser aus, nicht wahr? Nicht besser.“
„So wie Ihr mich wahrnehmt wohl kaum, Schmied“, gestand die Gestalt und blickte durch die Esse.
„Ihr folgt Eurem Handwerk also noch immer?“
„Tausend Jahre, alter Freund. Tausend Jahre! Achthundert davon hier … hier allein … in Abgeschiedenheit. Hier … allein.“
Achthundert Jahre der Einsamkeit … Selbst die hart gesottene Verzweiflung mochte sich das nicht vorstellen. Da waren die Schäden, die der Schmied erlitten hatte, ein sanfte Folge.
„Ihr habt mich erwartet, nicht wahr?“
„Nein, nicht erwartet, nein“, wies der Schmied ab. „Ich habe gewusst, dass Ihr kommt. Nicht erwartet, alter Freund. Gewusst, nicht erwartet.“
„Wie dem auch sei“, begann die Gestalt. „Ich denke die Zeit ist reif.“
„Die Zeit … ist niemals reif. Wofür? Ist nicht reif. Nicht die Zeit. Niemals. Unmöglich. Die Zeit ist kein Individuum. Nicht reif. Oder immer reif. Nicht oder immer. Nicht jetzt, nicht manchmal. Nie oder immer ist sie reif. Nie oder immer.“
„Ich brauche Eure Hilfe“, änderte die Verzweiflung die Strategie. „Ich brauche Eure Kompetenz. Einzig und allein die Eure. Sonst kann mir niemand helfen. Nicht in dieser Sache!“
„Ich weiß“, antwortete der Schmied und fügte hinzu. „Ich weiß.“
„Tausend Jahre haben wir darauf gewartet. Nun ist es an der Zeit, ins Licht zu treten. Und dafür brauchen wir die Waffe. Die Waffe, die nur Ihr schmieden könnt.“
„Abgeholt wird sie. In einigen Wochen. Abgeholt. Von deiner Person. Die Person, von der du sprichst. Nur von ihr, sonst von keiner. Keiner … nur dieser Person“, leierte die Stimme des Schmieds, obwohl der Körper regungslos dasaß und in die langsam verlöschende Glut der Esse starrte. Mit blinden Augen …
„Dafür werde ich sorgen. Der Frieden ist nahe. Die Person wird mit uns den Weg ebnen.“
„Frieden … nein … nicht Frieden. Harmonie. Nicht Frieden … Harmonie.“
„Nennt es, wie Ihr wollt. Ich habe hier alles, was Ihr braucht. Nur sie fehlt noch. Nur die Person, die die Waffe führen wird und die Waffe selbst. Ihr habt, was Ihr braucht, Schmied. Tut nun Euren Teil für die Zukunft.“
„Es gibt keine Zukunft. Es gibt nur das Hier. Nur das Jetzt. Nicht Zukunft. Nur hier, nur jetzt.“ Die Verzweiflung verbeugte sich leicht, wandte sich dann ab und stellte ein kleines Päckchen auf das unterste Regal des Schrankes, in dem sich Bücher mit Staub paarten.
Dann ging sie ohne ein weiteres Wort und ließ den blinden, verwirrten Schmied allein zurück.
Nirgendwo! Das war die Bezeichnung, die diesem Ort am ehesten gerecht wurde.
Eine abgebrochene Gegend, in die es einen Menschen nur verschlug,wenn er die Einsamkeit suchte. Schneetreiben gab dem Ambiente fast schon etwas Romantisches. Bilderbuchschnee! Dicke, langsam dem Boden entgegengleitende Flocken, die den Beobachter einschläferten und ihm ein trügerisches Gefühl der Ruhe und Sicherheit vermittelten.
Ein Krachen durchbrach die weißen Mauern der Stille. Ein Ast, gebrochen einzig und allein durch die Last tausender Schneeflocken, stürzte zu Boden und hinterließ eine markante Figur im sonst so ebenmäßigen Schnee.
Unsichtbar! Anders war die Gestalt kaum zu beschreiben, die diesem Ereignis keinerlei Beachtung schenkte und völlig reglos inmitten der eisigen Einöde verharrte.
Weiße Stiefel ruhten auf dem Schnee, ohne einzusinken.
Ein einsamer Vogel stimmte sein Klagelied an, als ein weiterer Ast tosend brach und leise zu Boden fiel - doch die Gestalt regte sich noch immer nicht. Sie trug einen langen, weißen Mantel, der dem Hintergrund so exakt glich, dass er praktisch mit ihm verschmolz. Die weißen Stiefel, die wie Federn auf dem Schnee standen, wichen einige Zentimeter unterhalb des Knies einer Hose, die sich nicht von dem Mantel unterscheiden ließ, der erst kurz über den Stiefeln endete. Aus dem Ärmel eben jenen Kleidungsstückes ragten lange, schmale Finger. Das war alles, was man von der Person erkennen konnte.
Endlich regte sich die Gestalt und schritt gemächlich über den Schnee zum Rand des Hains, den er offenbar durchwandert hatte. Er hinterließ keinen Makel im frischen Weiß und sank nicht einmal einen Millimeter ein.
Vor der Gestalt erstreckte sich grenzenlose Leere: Ein Meer aus Schnee und Eis, das irgendwo, hunderte Kilometer entfernt, dem matten, unschuldigen Blau des Himmels wich. Doch irgendwo, mitten in der weißen, lebensfeindlichen Masse, reckte sich ein grauer Felsen gen Himmel. Wie ein trotziger Soldat, der sich einer Übermacht nicht ergeben wollte überragte er den weißen Rivalen und hielt sich tapfer gegen die nachrückenden Schneeflocken, die auch ihn zu einem Verbündeten machen wollten. Genau dieser Fleck war offenbar das Ziel der Gestalt.
Ohne Hast; ganz als wäre sie nicht im Geringsten daran interessiert irgendwo anzukommen. Die Zeit schien für sie keine Bedeutung zu haben. So lange hatte sie schon gewartet. Über tausendzweihundert Jahre hatte sie einen Plan erarbeitet, der so vollkommen und ausgeklügelt, aber dennoch so einfach zu zerstören war. Ein einziger Fehler, eine einzige Unaufmerksamkeit, eine einzige Fehlkalkulation, und alles wäre umsonst gewesen. Dann hatte die Gestalt neuntausendachthundertsiebenundsechzig Menschen grundlos getötet. Sie hatte jeden einzelnen gezählt. Sie hatte einundfünfzig Generationen an Menschen hinter sich, aber an das Töten hatte sie sich nie gewöhnt. Jedes Leben, das sie nahm, war ein Verlust. Ein Verlust, der unwiederbringlich, aber notwendig war. In gewisser Weise dachte die Gestalt wie ein Geschäftsmann. Sie war sozusagen ein Kaufmann für Leben und Zukunft. Wie jedem anderen Wirtschafter ging es ihr um Gewinn, nur das ihrer atmete und lebte. Und um Leben zu retten … musste man Leben investieren. Es gab keine Zinsen auf angelegtes Glück. Entweder man verbrauchte es, oder man starb ohne das Gefühl, ein schönes Leben hinter sich zu haben. So würde die Gestalt einmal sterben.
Der Felsen war bereits größer geworden, doch sonst hatte sich nichts verändert. Gähnende Leere empfing jeden Besucher der verzweifelt genug war hierher zu kommen, nahm ihn in sich auf und gab ihm das Gefühl, unbedeutend zu sein.
Ohne Hast bewegte sich die Gestalt. Wieso sollte sie sich auch beeilen? Hier in der Endlosigkeit einer Welt, die es nur in ihren Vorstellungen gab und die trotzdem so real war, dass man hier seinem Ende entgegenlaufen konnte. Langsam, aber unaufhaltsam näherte die Gestalt sich dem dunklen Fleck mit dem weißen Haupt, und bald konnte sie erkennen, dass es sich nicht um einen Felsen, sondern um eine Hütte handelte. Eine Hütte mitten im Nirgendwo. Eine Hütte, die jedem Architekten einen Herzinfarkt beschert hätte und die dennoch dem lebensfeindlichen Klima widerstand und auch den Schneemassen auf dem Dach standhielt. Fenster gab es nicht, die einzige Tür war halb hinter einem weißen Berg verborgen. Vereistes Holz bildete die Außenwand. Niemals hätte ein solches Gebäude den Mächten des Wetters standhalten können, denen es seit tausend Jahren ausgesetzt war. Eine Macht strahlte der Gestalt entgegen, als sie sich weiter näherte, und veranlasste sie stehen zu bleiben. Seltsames Flimmern erfüllte die Luft um die Hütte, als würde die Luft kochen. Der Besucher hob die Arme. Kurz geschah nichts, dann begann der Schnee vor der Tür der Hütte zu schmelzen. Ganz langsam verflüssigte sich die Masse und offenbarte immer mehr von der, mit Verschnörkelungen und Blattgold überladenen Tür. Sie stand in direktem Kontrast zum Rest, der eher schlichten Behausung. Als sich der Schnee vollständig aufgelöst hatte, nutzte der Wind die Chance, mit aller Kraft auf die Gestalt einzuwirken, die herumwirbelte und die Arme weit vom Körper streckte. Der beißende Wirbel aus Schnee und Luft brauste an ihr vorbei, erfasste sie jedoch nicht. Dröhnen hallte durch die Leere der Eiswüste, als die Natur die Muskeln spielen ließ. Die Gestalt jedoch schien keine Probleme zu haben, sich gegen die gewaltige Macht zu verteidigen, die den Schnee hunderte Meter in die Luft wirbelte. Auch die Hütte hielt stand, obwohl Eisbrocken in Kleinwagengröße gegen die morsche Fassade prallten. Magie strömte durch die Luft. Dann war es plötzlich wieder still.
Die Gestalt ließ die Arme sinken und sah wieder zur Tür: Rote Zeichen glühten im dunklen Holz. Trotz des Sturmes lag kein Schnee vor der Hütte und der Besucher ging auf den Eingang zu, studierte kurz die Zeichen und stieß dann leicht gegen das morsche Holz. Mit lautem Knarren schwang die Tür auf und gab den Blick auf ein altmodisches Zimmer frei, das so groß war, dass es das Einzige in der Hütte sein musste. Der Boden bestand aus grobem Holz, der unter einer dicken Rußschicht verborgen lag. Es war hell, obwohl es keine Lampen gab. Ein Regal mit Schriftrollen verdeckte die vollständige Rückwand des Hauses und auf der linken Seite standen sechs Waffenständer mit je drei Schwertern auf einer Tafel. Stilvoll gebundene Griffe ragten aus den schlichten Scheiden der Wakizashis und den etwas längeren Katanas, den beiden gebräuchlichsten Schwerttypen. Dahinter konnte man einen wuchtigen, kreisrunden Schleifstein erkennen, auf dem zwei dunkelbraune Handschuhe ruhten. Noch weiter hinten kämpfte die letzte Glut ihren Todeskampf in einer Esse, die jeder Schmiede Ehre gemacht hätte. Ihre Steine waren glatt geschliffen und die Ränder mit verschlungenen Symbolen gespickt. Eine Abzugshaube war an künstlerischer Gestaltung kaum zu überbieten. In dem kalten Wasser, etwas abseits der Feuerstelle, ruhte eine Metallstange, die man scheinbar zum Abschrecken dort hineingelegt hatte. Die dunkle Färbung verriet, dass der Versuch gelungen war. Aufgebläht thronte ein blass-gelber Blasebalg auf einem kleinen Absatz vor der Esse.
Die andere Seite der Hütte war weit unscheinbarer eingerichtet und ziemlich unordentlich. Ein großer, massiver Holzschrank hielt die Stellung neben einem Bett, das mit Fellen überladen war.
Alles wirkte wie damals, als die Waffenschmiede zu den verehrtesten Handwerkern gehörten.
Eine plötzliche Bewegung auf dem Bett ließ die Gestalt zusammenzucken. Das, was vorher wie ein Berg Felle gewirkt hatte, erhob sich, und ein Gesicht kam zum Vorschein. Blasse, pergamentdünne Haut spannte sich über Sehnen und Knochen. Bläuliche Adern zeichneten sich deutlich ab, und trübe, blinde Augen starrten dem Besucher entgegen, während sich Nasenflügel wie unter großer Anstrengung blähten. Weißes, dünnes Haar hing in langen Strähnen ungeordnet in das wettergegerbte, von Falten gezeichnete Gesicht.
„Wer ist da?“, stöhnte eine unpassend laute Stimme, die nicht aus dem noch immer verschlossenen Mund des alten Mannes kam, sondern irgendwo aus dem Nichts
„Das wisst Ihr doch bereits“, gab die Gestalt zurück.
„Ja, das weiß ich. Ihr seid die Verzweiflung“
„Ja“, stimmte die Verzweiflung zu und zögerte kurz. „Das bin ich wohl.“
„Das wurde auch langsam Zeit, alter Freund. Das wurde auch langsam Zeit. Ja, das wurde es. Langsam Zeit, alter Freund.“
„Ihr seid alt geworden“, merkte die Verzweiflung an.
„Ja, das bin ich wohl. Das bin ich wohl! Aber auch Ihr seht nicht besser aus, nicht wahr? Nicht besser.“
„So wie Ihr mich wahrnehmt wohl kaum, Schmied“, gestand die Gestalt und blickte durch die Esse.
„Ihr folgt Eurem Handwerk also noch immer?“
„Tausend Jahre, alter Freund. Tausend Jahre! Achthundert davon hier … hier allein … in Abgeschiedenheit. Hier … allein.“
Achthundert Jahre der Einsamkeit … Selbst die hart gesottene Verzweiflung mochte sich das nicht vorstellen. Da waren die Schäden, die der Schmied erlitten hatte, ein sanfte Folge.
„Ihr habt mich erwartet, nicht wahr?“
„Nein, nicht erwartet, nein“, wies der Schmied ab. „Ich habe gewusst, dass Ihr kommt. Nicht erwartet, alter Freund. Gewusst, nicht erwartet.“
„Wie dem auch sei“, begann die Gestalt. „Ich denke die Zeit ist reif.“
„Die Zeit … ist niemals reif. Wofür? Ist nicht reif. Nicht die Zeit. Niemals. Unmöglich. Die Zeit ist kein Individuum. Nicht reif. Oder immer reif. Nicht oder immer. Nicht jetzt, nicht manchmal. Nie oder immer ist sie reif. Nie oder immer.“
„Ich brauche Eure Hilfe“, änderte die Verzweiflung die Strategie. „Ich brauche Eure Kompetenz. Einzig und allein die Eure. Sonst kann mir niemand helfen. Nicht in dieser Sache!“
„Ich weiß“, antwortete der Schmied und fügte hinzu. „Ich weiß.“
„Tausend Jahre haben wir darauf gewartet. Nun ist es an der Zeit, ins Licht zu treten. Und dafür brauchen wir die Waffe. Die Waffe, die nur Ihr schmieden könnt.“
„Abgeholt wird sie. In einigen Wochen. Abgeholt. Von deiner Person. Die Person, von der du sprichst. Nur von ihr, sonst von keiner. Keiner … nur dieser Person“, leierte die Stimme des Schmieds, obwohl der Körper regungslos dasaß und in die langsam verlöschende Glut der Esse starrte. Mit blinden Augen …
„Dafür werde ich sorgen. Der Frieden ist nahe. Die Person wird mit uns den Weg ebnen.“
„Frieden … nein … nicht Frieden. Harmonie. Nicht Frieden … Harmonie.“
„Nennt es, wie Ihr wollt. Ich habe hier alles, was Ihr braucht. Nur sie fehlt noch. Nur die Person, die die Waffe führen wird und die Waffe selbst. Ihr habt, was Ihr braucht, Schmied. Tut nun Euren Teil für die Zukunft.“
„Es gibt keine Zukunft. Es gibt nur das Hier. Nur das Jetzt. Nicht Zukunft. Nur hier, nur jetzt.“ Die Verzweiflung verbeugte sich leicht, wandte sich dann ab und stellte ein kleines Päckchen auf das unterste Regal des Schrankes, in dem sich Bücher mit Staub paarten.
Dann ging sie ohne ein weiteres Wort und ließ den blinden, verwirrten Schmied allein zurück.