Schon bei den ersten Worten, die Lutien aussprach, wurde allen Anwesenden klar, dass auch er Tarius für unfähig befand.
„Äh“, setzte Tarius zu einer Antwort an, als Lutien seinem Vortrag eine kurze Pause gönnte. „Nun, wir dachten eigentlich, Ihr seid schon über die Lage hier informiert. Was Ihr hier seht, ist die Front. Wir sind – natürlich auch zu unserem Bedauern – die einzigen, die noch übrig sind. Wir warten schon lange auf ausreichende Unterstützung aus den östlichen Ländern, aber bisher haben alle abgelehnt, hier an der Grenze zu Fandrar mitzumischen. Sie sind alle um ihr eigenes Wohl besorgt und lassen ihre Truppen dort, wo sie sind, anstatt die Invasion schon im Anfangsstadium aufzuhalten. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, sind wir gezwungen, diese Stellung aufzugeben und uns ins Landesinnere zurückzuziehen. Der größte Teil unserer Soldaten – rund achtzig- von hundertzwanzigtausend – besteht aus einfachem Fußvolk, das behelfsmäßig an Schwert und Speer ausgebildet wurde. Es sind Männer aus der Bevölkerung, keine Soldaten. Einige von ihnen können jedoch auch mit einem Bogen umgehen. Das ist natürlich mehr als nur ungenügend, unsere Ausbilder sind täglich im Einsatz, um Defizite so gut wie möglich aufzubessern. Leider mit eher mäßigem Erfolg. Nun zu den richtigen Soldaten: Zwanzigtausend Mann sind an Schwert, Speer und Streitaxt ausgebildet. Dazu kommen zwölftausend Kavalleristen und achttausend Bogenschützen. Die Söldnertruppen bestehen aus gemischten Einheiten, die während den Schlachten entweder nach ihrem Können aufgeteilt werden oder einzeln ihre Aufträge wahrnehmen. Die Magier sind gleichmäßig auf dem Schlachtfeld verteilt. Sie schützen das Fußvolk mit magischen Schilden vor Pfeilhagel und sind nebenbei als Heiler tätig. Hier bestehen auch Mängel, denn hundert Magier, die sich um hundertfünfzigtausend Mann kümmern müssen... Ihr könnt Euch ja vorstellen, wie die Situation während der Schlacht aussieht...“ Er rang sich zu einem verzweifelten Lächeln. „Was unsere Gegner betrifft, sind wir uns von der Anzahl her im Unklaren. Doch Berichten und den Begegnungen in der Schlacht zufolge, sind wir klar in der Unterzahl. Boten aus Belandris berichteten einen großen Truppenaufmarsch des Feindes in Rèsgon, so müssen wir damit rechnen, in kommender Zeit von beiden Seiten eingekesselt zu werden. Die Bewaffnung der Truppen ist unterschiedlich und lässt auf keinerlei besondere Organisation hindeuten. Anscheinend verlässt Omega sich auf die Urtaktik: Die Überzahl gewinnt. Und das scheint Erfolg zu haben. Er schindet nur Zeit, wir wissen nicht genau, was er vorhat. Der Feind verschwindet so plötzlich, wie er auftaucht. Wir nehmen an, Omega hat vor, unsere Nerven aufzurauen, anstatt uns einfach zu überrennen.“
Tarius räusperte sich und Lutien stellte weitere Fragen. Dem Heermeister war es anscheinend unangenehm, so ausgenommen zu werden.
Aber vielleicht merkt er dann endlich selbst, dass er nicht so ein brillanter Taktiker ist, wie er denkt, lachte Alor vergnügt in sich hinein.
„Bei den Wesen, mit denen wir es zu tun haben, handelt es sich im Großteil um Vampire, Mischwesen und wiedererweckte Leichen“, fuhr Tarius fort. Alor war sich sicher, dass es nicht nur die Hitze war, die dem Hauptmann Schweiß auf die Stirn trieb. „Die Vampire haben Ähnlichkeit mit den Menschen, sie scheinen doch eine eigene Rasse zu sein. Sie können im Dunkeln sehen, besitzen große Wendigkeit und großes Kampfgeschick. Aber ich denke, dass wisst Ihr bereits.“
Lutien antwortete nur mit einem „Hm“, er schien ziemlich gedankenversunken zu sein.
„Zu den Mischwesen können wir nicht viel sagen. Entweder sind sie halb Vampir, halb Tier oder etwas ganz anderes. Jedenfalls besitzen die meisten Reißzähne und scharfe Klauen, die sie im Kampf nebst Klingen- und Schlagwaffen einsetzen. Bei den Zombies handelt es sich um unsere Gefallenen, die Omegas Hexer wieder ins Leben gerufen haben und für ihre Zwecke einsetzen. Ich kann Euch sagen: Die Soldaten waren nach der ersten Schlacht gegen sie ganz aufgelöst. Doch mit jeder Schlacht, die wir geschlagen haben, scheint die Vorstellung, gegen ehemalige Kampfkumpanen und Freunde zu ziehen, mehr und mehr erträglicher für sie zu sein. Trolle, Oger und auch menschliche Söldner kommen eher selten zum Einsatz. Kavallerie ist nicht vorhanden, aber Bogenschützen haben sie viele. Kämpferisch wie auch zahlenmäßig sind sie unseren Truppen weit überlegen, die Schlachten waren eher ein Gemetzel mit hohem Verlust auf unserer Seite. Wie gesagt: Der Feind hält sich noch zurück. Er könnte uns jederzeit überrennen.“ Tarius lächelte erneut verzweifelt. „Dazu kommt, dass wir unsere Gefallenen nicht bestatten können: Sie verschwinden einfach. Genauso, wie die gefallenen Feinde. Es ist mir persönlich ein Rätsel...“
Das kann doch nicht wahr sein!, dachte Alor und fluchte innerlich.
„Heermeister, wenn ihr erlaubt?“, unterbrach er ihn. „Wie ich Euch bereits vor Wochen erklärt habe, gibt es dafür sehr wohl eine Erklärung. Wie ihr wisst, war ich einige Zeit gezwungen, einem von Omegas Hexern als Schüler zu dienen...“
Einige der Hauptmänner ihm Zelt schauten Alor grimmig an: Sie waren wegen dieser Geschichte nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.
Doch er fuhr unbeirrt fort: „... Es besteht kein Zweifel, dass der Feind die Gefallenen beider Seiten schon während der Schlacht gen Norden teleportiert, um dort seine kranken und widerlichen Wiedererweckungsmaßnahmen auszuführen.“
„Danke für die Erinnerung, Hauptmann.“ Wieder rang sich Tarius zu einem Lächeln. „Das hatte ich vergessen.“
Lutien stellte weitere Fragen und äußerte den Verdacht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Wachen und der Unversehrtheit der Magier. Er wandte sich jedoch jetzt zu Alor.
Alor lächelte höflich. „Nein, davon gehe ich nicht aus. Wie ihr jetzt ja auch wisst, stand ich einige Zeit in Omegas Diensten. Die Totenfelder sind ein Pfuhl von Schwarzer Magie, der auch normale Magier nichts entgegenzusetzen haben. Ich selbst war zum Glück nicht am Weben der Zauber beteiligt, die den Sumpf im Bann Omegas halten, doch ich kann Euch mit großer Sicherheit sagen, dass es einen anderen Zusammenhang gibt: Die Männer und Frauen, die verschwunden sind, waren immer allein. Die Suchtrupps bestanden aus normalen Soldaten, die Magier waren in Fünfergruppen für sich unterwegs. Niemand von ihnen ist abhanden gekommen. Würden wir Magier allein in die Ödnis schicken, würden auch diese nicht zurückkehren. Doch wir können es nicht riskieren, meinen Verdacht auszutesten: Jeden, der in diesem Sumpf verschwindet, werden wir irgendwann in der feindlichen Armee wiederfinden – ob untot oder versklavt. Und jeder Magier, der auf unserer Seite fehlt, kann den Tod für viele unserer Männer bedeuten. Ja, kann sein, dass ich Glück hatte, kann sein, dass mir nichts geschehen ist, weil ich von Norden kam. Aber ich bin mir sicher: Mir ist nichts geschehen, weil die Schwarze Magie der Hexer noch an mir haftete.“