Dunkle Gabe
Langsam senkte sich die Sonne. Die Nacht brach an. Die Bewohner von Lakada begannen eilig, sich für die Nacht zu verbarrikadieren.
Die größte Handelsstadt der Menschen war in den Nächten wie ausgestorben. Die Stadttore wurden geschlossen, Familien zogen sich in ihre Häuser zurück, Reisende suchten Schutz in Gaststätten oder Tavernen, und all jene die keine Heimat hatten, eilten in die kleinen Kneipen und Schenken. Wer dumm genug war, nachts auf der Straße zu reisen, überlebte diese Dummheit für gewöhnlich nicht.
Seit vor etwa 50 Jahreszyklen König Agason, Erzmagier und weißer Herrscher der menschlichen Völker, sich mit Dämonen eingelassen hatte, waren die Nächte mehr als gefährlich.
Keiner, nicht einmal die Elfen, wussten was den gütigen Herrscher dazu bewegt hatte, die Geschöpfte der Finsternis auf seine Heimat loszulassen. Und es war ihnen auch völlig egal, sie wollten keinen Grund, sondern eine Lösung.
Denn die Dämonen hatten angefangen die Grenzen zu überschreiten. Der König unternahm nichts. In seinem Reich hatte es viele Bettler, Diebe und Banditen gegeben, die nun den Dämonen als Nahrung dienten. Er sah dies als willkommene Säuberung an. Und auch einige seiner Untertanen nutzten die Dämonen, um ungeliebte, verhasste Personen loszuwerden.
So kam es, das Sheoe an diesem Abend vor verschlossener Haustüre stand. Für die 13- jährige war das nicht das erste Mal. Die Tür war verschlossen und die Fenster von innen zugenagelt. „Bis Morgen!“ knurrte sie.
Ihre Ziehmutter sollte doch langsam wissen, dass das nichts brachte. Wenn die eigene Tür verschlossen war, suchte Sheoe eben eine andere Tür, die ihr offen stand. Diese fand sie meistens in der „Fliegenden Forelle“, einer kleinen, heruntergekommenen Schenke. Der Wirt und die Wirtin lebten praktisch von den Einnahem, die sie über Nacht machten.
Die Fliegende Forelle war nahe am Hafen. Matrosen, die kurz vor Sonnenuntergang ankamen, hatten meiste keine andere Wahl, als in einer der Schenken Zuflucht zu suchen.
Aus diesem Grund war auch jedes Mal viel Betrieb.
Sheoe öffnete die Tür. Die Luft war erfüllt von Tabakrauch, Alkohol und Schweiß.
Es gab nur einen großen Raum, der schlecht beleuchtet war. Eine steile Holztreppe führte in den ersten Stock, in dem es drei Zimmer gab. Diese waren jedoch immer belegt.
Sheoe ging zur Theke. Neugierige Blicke folgten ihr. Etwas, das für sie Alltag war.
Die Wirtin blickte sie kurz an, griff nach einer Flasche und schob ihr wortlos ein Glas mit einem roten Getränk zu.
„Wenn das nicht meine kleine Stammkundin ist“, meinte sie, „Was war es dieses Mal?“ Sheoe grinste und schob ihr schulterlanges, silberweißes Harr hinter ihr spitz zulaufendes Ohr.
„Der Ohrring!“ Die Wirtin schüttelte den Kopf: „Mädchen, du solltest dich wirklich mal nach Artgenossen umsehen.“
Sheoe antwortet nicht.
Artgenossen. Natürlich hielt sie immer die Augen offen. Aber Elfen waren seltene Besucher. Und wen sie eine der hoch gewachsenen Gestalten erblickte, versagte ihr der Mut.
Sheoe hatte sich schon oft mit reisenden Elfen verglichen, aber irgendwie war sie anders. Das ging schon bei der Haut los.
Sie hatte eine helle, fast durchsichtige Haut. Blau zogen sich ihre Ader an Hals und der Innenseite ihrer Arme entlang. Keine der Elfen hatte diese helle Haut. Das nächste waren die Haare. Sheoe hatte dünnes silberweißes Haar, aber all die Elfen hatten entweder schwarzes, rotes, braunes oder blondes Haar gehabt. Bis auf einen Dunkelelf, aber bei ihm hatte die Hautfarbe nicht gestimmt.
Sheoe hatte sich oft im Spiegel angeschaut und sich gefragt, warum ihre Augen scharlachrot waren. Keiner der Reisenden hatte dieses Merkmal gehabt.
Sie hatte sich einreden wollen, dass sie ein Albino war. Aber zu ihrem Verdruss gab es noch zwei Unterschiede zwischen ihr und den Elfen: Ihr wuchsen Reißzähnen.
Sheoe wusste nicht, was das sollte - ihre Milchzähne waren noch normal gewesen. Erst die erwachsenen Zähne wuchsen länger und spitzer nach.
Und das andere Problem: Ihre Fingernägel. Die Götter mochten wissen, was das zu bedeuten hatte.
Sheoes Fingernägel wuchsen, egal wie oft sie sie abschnitt, innerhalb eines Tages wieder zu spitzen, leicht länglichen und mit Sicherheit unangenehmen Waffen nach.
Sheoe hatte spaßeshalber mal die Härte erprobt und festgestellt, dass ihre Fingernägel eher Klauen waren. Scharf und hart.
Welcher Elf hatte schon so etwas?
Frustriert stützte sie den Kopf auf ihre Hand. Mit der anderen spielte sie mit einem runden Amulett. Das einzig Greifbare ihrer Vergangenheit.
Es passte etwa in ihre Kinderhand und war rund. Es war silbern, und sowohl der fünfzackige Stern, als auch jede Rune am Ende, war mit Schwarz hervorgehoben. In der Mitte des Amulettes war ein Totenkopf, dessen Mund zu einem stummen Schrei geöffnet war. Er hatte zwei lange Reißzähne, und wenn Sheoe länger in die leeren Augenhöhlen schaute, spielte ihr die Vorstellungskraft einen Streich und ließ sie grünes Feuer sehen.
Das Amulett zog Dämonen an. Jeder der insgesamt 478 unglücklichen Personen, die das Amulett getragen hatten, war von irgendeinem Wesen der Finsternis zerfetzt worden. Nur bei Sheoe wirkte das Ding nicht.
„Weißt du, ob Elfen in der Stadt sind?“
„Nein Kleines, wenn, dann suchen sie sich eine edlere Bleibe.“
Da hatte die Wirtin auch wieder recht.
Sheoe seufzte, erhob sich und zog sich zu ihrem Stammplatz am Ofen zurück.
Es war Ende Herbst, und langsam krochen Eis und Schnee aus dem Norden nach Lakada.
Sheoe setzte sich und zog eine zerknitterte Buchseite aus ihrer Tasche hervor. Sie war sehr wissbegierig. Lesen und Schreiben brachte sie sich selber bei. Sie wusste nicht, wieso.
Wer wie sie aus dem Armenviertel kam, schaute eher, dass er einen Beruf lernte, als seine Zeit mit so etwas unnützem wie Lesen und Schreiben zu verbringen.
Es war vermutlich das elfische Erbe!
Sheoe vertiefte sich in die Buchseite, die sie vor dem Feuer gerettet hatte. Auch wenn das Licht schlecht war, sah sie hervorragend. Sie war so vertieft, dass sie den Mann erst bemerkte, als er sich über sie beugte und ihr den Kopf tätschelte.
„Was haben wir den da feines?“ Der Stinkende Atem des Mannes roch nach Alkohol.
Sheoe war sofort in Alarmbereitschaft. Angetrunkene Männer waren gefährlich.
„So ganz alleine…“ meinte er leise, „Willst du nicht lieber zu uns kommen?“ Dabei wies er auf drei Matrosen an einem Tisch.
„Mir gefällt es hier. Es ist schön warm.“
Der Mann lachte. „Ich könnte dich auch wärmen!“ sagte er.
Sheoe suchte eilig den Blick der Wirtin, aber diese war mit einem Gast beschäftigt.
„Komm und setzt dich zu uns.“ Er wollte sie am Arm packen, aber Sheoe sprang auf und entwischte ihm.
„Nein.“ sagte sie mit fester Stimme und hoffte, dass andere ihre unangenehme Lage bemerkten.
Tatsächlich beobachteten einige das Geschehen. Aber keiner machte anstand ihr zu helfen. „Wir tun dir nichts!“ versprach der Mann.
Sheoe glaubte ihm kein Wort. Ihr Gefühl warnte sie vor diesem Mann, und auf ihr Gefühl konnte sie immer zählen. Dieses Mal packte er sie am Arm und hielt sie fest. Sheoe schrie auf. Der Wirt und die Wirtin eilten zu ihr.
„Lass das Kind los.“ sagte die Wirtin wütend.
„Sie wollte meinen Geldbeutel stehlen!“
„Das stimmt nicht!“ rief Sheoe aus.
„Aber natürlich stimmt das, du kleine Ratte!“
Sie bekam einen Schlag ins Gesicht. Für kurze Zeit sah sie nur Sterne.
„Da, das ist mein Schutzamulett!“ Er hielt Sheoes Amulett hoch.
„Nimm die Finger davon weg!“ zischte sie.
Die Wirtin schaute von dem Mann zu Sheoe. Dass Kinder in diesem Alter sich mit Diebstahl durchschlugen, war allgemein bekannt.
„Das gehört mir! Das habe ich von meinen Eltern!“
Der Mann lachte laut. In seinem Mund konnte man verfaulte Zähne sehen. „Und wo sind deine Eltern jetzt?“ Er wartet keine Antwort ab, sondern ging zu seinen Kameraden zurück. Sheoe zitterte vor Hass und Wut. Ihr Hass richtet sich gegen die Menschen, jenes Volk, das seine Kinder nicht achtete und bei dem nur das Wort der Erwachsenen zählte. Und ihre Wut richtet sich auf ihre Eltern, die sie nie abgeholt hatten.
Und das alles konzentrierte sie auf diesen Mann.
„Du wirst Qualvoll sterben!“ fauchte sie.
Der Mann lachte nur.
„Langsam sollst du innerlich verbluten und dich im Dreck vor Schmerz und Pein winden!“
Sheoe stellte sich es vor.
Ganz plötzlich brach das Lachen ab und wurde zu einem Gurgeln. Der Mann fasste sich an den Hals. Dann brach er auf dem Boden zusammen. Schaum, von Blut gefärbt, floss ihm aus dem Mund und er rollte sich vor Schmerzen auf dem Boden.
Sheoe fand es verwunderlich, aber es reichte ihr nicht.
Der Kerl sollte leiden! Richtig leiden!
Derweil war Panik im Raum ausgebrochen. Bestürzte versuchten dem Mann zu helfen, andere schrieen Sheoe an. Aber sie reagierte nicht. Sie hatte ihre Augen stur auf den Mann geheftet. Der Mann schrie. Er zuckte wild und wälzte sich von einer Seite zur anderen. Und dabei starrte er Sheoe immer wieder an.
Schließlich, ein letztes Aufbäumen des Körper, und dann lag er still da.
Fasziniert beobachtet Sheoe, wie sich die Augen grau färbten.
„Er ist tot.“
Diese Worte rissen Sheoe aus ihren Trance-ähnlichen Zustand. Ihre Beine gaben nach und sie landete müde auf dem Fußboden.
„War... ich das?“ fragte sie zaghaft.
„Du verfluchte Hexe!“ Ein Mann sprang auf und packte sie am Kragen. Mühelos hob er sie hoch. „Dafür wirst du sterben!“
Mehrere stimmten ihm zu.
In Sheoe regte sich der Überlebensinstinkt, der sie schon öfters aus brenzligen Situationen gerettet hatte. Sie hob die Hand und kratzte ihm mit ihren Fingernägel ordentlich über das Gesicht.
Er ließ sie sofort los. Noch während er schrie und vor Schmerz seine Augen verhüllte, landete Sheoe auf ihren Beinen, rollte sich an dem Mann vorbei und sprang dann in einem eleganten Bogen über die Köpfe der Erstaunten.
„So leicht mache ich es euch nicht!“ Mit diesen Worten riss sie die Tür auf und stürmte in die Nacht...