Fantasy-Foren
Startseite Registrieren Hilfe Mitgliederliste Kalender
Grafik Grafik
 
Zurück   Fantasy-Foren > Fantasy Foren > Literatur, Lyrik und Kunst

Tags: , , , , , , ,

Winter

Antwort
 
Themen-Optionen
  #1  
Alt 31.05.2013, 13:04
Benutzerbild von Hobbyschreiber
Hobbyschreiber Hobbyschreiber ist offline
Drachentoeter
 
Registriert seit: 05.2010
Ort: Zumindest nicht mehr hier!
Beiträge: 1.048
Winter

Der Titel "Winterdepression" erschien mir im Nachhinein doch recht abschreckend. Wer beschäftigt sich schon gerne mit anderer Leute Depressionen, wo jeder von uns doch selber sein Päckchen zu tragen hat.

Deshalb hier noch einmal unter neuem Titel mein Beitrag gegen das Aussterben der Fantasy Foren. Wäre eventuell einer der Moderatoren so freundlich, das andere Thema zu löschen ... ?

Über Kommentare zum folgenden Geschreibsel würde ich mich natürlich wie immer sehr freuen.

************************************************** ******

Im Laufe des Tages war das Schneegestöber dichter und dichter geworden. Und so sehr Wanja Bajarin sich auch bemüht hatte, die Erinnerungen an jenen anderen Winter zu verdrängen, … als er mit der frühen Dämmerung in den Burghof einritt und dort die Frauen und Kinder gebückt unter den rieselnden Flocken davon laufen sah, Köpfe und Rücken mit Tüchern geschützt, war das nicht mehr möglich. Tausendmal hatte er in seinen Alpträumen gesehen, wie die Frauen, Kinder und Greise jener Illurengruppe genauso versucht hatten, sich vor dem Schnee zu schützen.

Der graue Hengst schnaubte und schüttelte seine Mähne, als Wanja abstieg. Er kraulte dem Tier gedankenverloren das linke Ohr und nickte nur auf den Gruß seines Stallmeisters, als der ihm das Pferd abnahm. Willig folgte es dem Mann in den Stall. Bei solchem Wetter wussten auch amudarische Pferde ein schützendes Dach zu schätzen. Wanja ging zum Portal des Bergfrieds hinüber, das von einem Diener diensteifrig aufgerissen wurde. Lustlos stieg er die breite Treppe hinauf und betrat den Saal, wo ihn nicht nur ein freundlich flackerndes Kaminfeuer erwartete, sondern auch seine geliebte Gemahlin. Sie saß in eine weiche Pelzdecke gehüllt in einem bequemen Sessel vor dem Feuer und stillte ihrer beider Tochter Maryam.

Für den Augenblick schwanden die trüben Gedanken und auf Wanjas Gesicht erschien ein Lächeln. Immer noch konnte er es nicht fassen, so viel Glück gefunden zu haben: So eine unglaublich schöne Frau, mit ihrer hellen Haut, dem blauschwarz glänzenden Haar und den tiefblauen Augen, mit einem so gütigen Herzen und einem so starken Willen, die ihn zu alle dem auch noch genauso sehr liebte, wie er sie. Ein so vollkommenes Kind wie diese lang ersehnte Tochter, schwarzhaarig wie ihre Eltern, aber glücklicherweise der Mutter ähnlicher als dem Vater. Und ein Zuhause, in dem sie sicher und wohl versorgt leben konnten: seine Burg in seinem Lehen Wolfsburg. Weit hatte er sich durch die Welt treiben lassen und doch keinen Ort gefunden, an dem er lieber sein wollte, als hier.

„Wanja“, sagte Valeria liebevoll, und wie immer, wenn sie seinen Namen aussprach, erfüllte ihn der Klang ihrer Stimme mit Wärme. „Wie schön, dass du endlich da bist! Ich machte mir schon Sorgen bei dieser Kälte.“

„Es ist doch gar nicht so kalt, Liebste.“ Er lächelte

„Vielleicht nicht für einen Nordamudaren.“ Sie schauderte trotz der Decke. „Aber ich finde es kalt und bin froh, dass du wieder zu Hause bist. Und sieh dir deine Tochter an! Sie will einfach nicht in ihrem Schlafsack bleiben. Ein halbes Jahr ist sie erst alt und fängt schon an, davon zu kriechen.“

Wanja trat näher und nahm den nun satten Säugling zärtlich auf seinen Arm.

„Sie ist eben zur Hälfte Amudarin und liebt ihre Freiheit. Lass sie sich doch bewegen, dann wird ihr schon warm werden.“

„Ach, Wanja …“ Valeria legte den Pelz zur Seite und stand auf, um neben ihn zu treten. „Du verwöhnst sie schon jetzt. Ich halte ja auch nichts davon, Kinder zu einem Bündel zusammen zu schnüren. Aber man kann einem kleinen Kind doch nicht ständig seinen Willen lassen.“

„Warum denn nicht?“ Wanja setzte sich nun selber in einen der Sessel vor dem Kamin, die Füße in den feuchten Stiefeln nach dessen Wärme ausstreckend. Staunend beobachtete er, wie seine Tochter nach seinem Zeigefinger griff und mit seiner Hand spielte, die schon so viele Menschen getötet hatte. Sie wusste noch nichts von dem, was außerhalb dieser Mauern in der Welt geschah. Ihre Eltern mussten dem Kind gewaltig und unfehlbar wie Götter erscheinen.

Der Wind draußen frischte auf und rüttelte heulend an den Läden. Wanja lauschte dem Lärmen angestrengt eine Weile, dann seufzte er und der vollkommene Augenblick, diese Seifenblase der Unbeschwertheit war dahin. Er küsste die Stirn seiner Tochter und lehnte sich zurück, um in die Glut der Holzscheite zu starren.

Ja, kalt waren die Winter im nördlichen Amudaria und der Schnee kam oft über Nacht, um die Ebenen zu bedecken wie ein Leichentuch. Und wenn es im Frühjahr fort gezogen wurde, … Er rieb seine Augen. Valeria kauerte sich neben ihn und nahm seine freie rechte Hand.

„Was bedrückt dich, Liebster?“, fragte sie sanft. „Und sage nicht, es sei `nichts´! Ich kenne dich.“
Das Lächeln, mit dem er sie beschwichtigen wollte, misslang.

„Nur Erinnerungen, Valeria. Alte Erinnerungen.“

„Und es sind keine angenehmen Erinnerungen.“ Das war keine Frage.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Nein“, sagte er leise. Sein Blick war auf Maryam gerichtet, beobachtete, wie sie an seinem Daumen zerrte. So klein wie dieses Kind auf seinem Schoß waren auch einige der Leichname gewesen.

„Magst du nicht mit mir darüber sprechen? Gewiss würde es dein Gemüt ein wenig erleichtern.“

Wanja starrte schweigend auf seine Tochter. Sie war so rein und unschuldig. Und auch die Kinder der Illuren hatten noch nichts von der Schlechtigkeit ihrer Eltern gewusst, als der Schnee ihre zarten weichen Körper eingehüllt hatte. So glühend, wie er damals die Illuren gehasst hatte, diesen Clan von Räubern und Mördern, hatte es ihn doch zutiefst erschüttert, deren Lager zu finden.

„Wanja?“ Valerias Rechte legte sich zärtlich an seine Wange. Er rang sich abermals ein blasses Lächeln ab und führte ihre linke Hand mit seiner Rechten an seine Lippen, um sie zu küssen.

„Ich musste nur an etwas denken, das sich vor vielen Jahren in Amudaria ereignete. Wenn Schnee fällt, ist die Erinnerung daran wieder da, an eine der weniger schönen Seiten meiner Vergangenheit.“

„Was könnte das sein? Du hast doch nie schlecht gehandelt.“

„Deine Meinung von mir ist besser, als ich es verdiene, Liebste.“ Er zögerte, sprach dann aber weiter. Sie kannte diesen dunklen Fleck auf seiner Ehre bereits. „Du erinnerst dich an das, was Vlad Illurin dir damals über mich erzählte, von den Toten, für die mich sein Volk verantwortlich macht?“

Valeria blickte einen Augenblick verwirrt. Das nachdenkliche Runzeln ihrer Stirn ließ ihre vollkommen geschwungenen Brauen aufeinander zu wandern.
„Die Illuren? Meinst du dieses Unglück, in das sie selber ihre Familien geführt hatten, damals als sie eure Winterdörfer überfielen?“

„Mhm …“ Wie eine warme Decke legte Wanja seine Hand auf den rundlichen, gesättigten Bauch seiner Tochter. Das kleine Mädchen blinzelte schläfrig und gähnte.

„Bww“, murmelte sie. Aufgeschreckt von diesem Geräusch, welches aus ihrem Mund gekommen war, riss sie die Augen auf. Doch schnell wurde sie wieder ruhig und schlief ein.

„Wanja, Liebster, du weißt, dass du an diesen Toten keine Schuld hast.“

„Was mein Kopf weiß, und was mein Herz fühlt, sind aber ganz verschiedene Dinge. Du warst nicht dort und hast nicht gesehen, was ich sehen musste.“

„Dann erzähle mir davon.“

„Ganz gewiss werde ich dir nicht …“

„Ich bin deine Gemahlin, Wanja.“ Sie trat hinter ihn, legte ihm ihre Hände zunächst auf die Schultern, ließ sie aber dann über seine Brust hinab gleiten, beugte sich vor und umarmte ihn, ihre linke Wange an seine rechte legend. „Teile deinen Kummer mit mir“, flüsterte sie.

Wanja schloss die Augen und genoss ihre Berührungen. Ein wenig sträubte er sich noch innerlich, doch dann seufzte er. Sie verdiente es, dass er sich ihr anvertraute. In ihre Hände hatte er sein Leben und seine Seele gelegt, und sie war stark genug dafür.

„Es war kurz vor Wintereinbruch“, sagte er deshalb leise. „Wir waren schon in unsere Winterdörfer eingezogen, denn das Vieh bekam früh einen dicken Pelz und das Gras war längst gelb. Alles deutete auf einen harten Winter hin. Auch Sommer und Herbst waren hart gewesen. Es war trocken und viele Tiere starben. Die Illuren bedrängten uns wie nie zuvor, denn selbstverständlich ging auch ihnen die Nahrung aus. Da sie nicht gewohnt waren, selber Vorräte anzulegen, raubten und brandschatzten sie noch schlimmer als sonst.

Eine Sippe von ihnen musste sich auf dem Zug in ihr Winterdorf verspätet haben. Sie kamen nahe an einem der unseren vorbei, und die Männer mussten beschlossen haben, es auszurauben. Jedenfalls ließen sie ihre Familien in den Sommerzelten zurück und zogen davon. Das Dorf, welches sie überfielen, lag in der Nähe von Vaters eigenem Dorf, nur einen halben Tagesritt entfernt. Sie müssen die Illuren rechtzeitig kommen sehen haben, denn sie schafften es, Brieftauben um Hilfe loszuschicken. Eine Stunde später saßen meine Gefährten und ich in den Sätteln. Wir forderten von den Pferden ihr Äußerstes, aber dennoch brannte das ganze Dorf, als wir dort eintrafen, und es gab nur einige wenige Kinder, welche das Unheil überlebt hatten. Die Räuber waren längst wieder fort. Wir holten sie ein, voller Zorn über das, was wir im Dorf vorgefunden hatten. Dieses Elend, Valeria! Diese Grausamkeit! Aber genug davon. Wir stellten sie, die mit all dem gestohlenen Gut und Vieh nicht so schnell vorankamen.“

Wanja schwieg wieder. Wie viele tausend Male hatte er sich gefragt, ob sie nicht zu unbarmherzig gewesen waren. Hatte sein Hass nicht doch Mitschuld am Tod der Illurensippe gehabt?

„Wir töteten sie alle“, fuhr er fort. „Jeder von ihnen hatte Blut an den Händen, Blut unserer Schutzbefohlenen. Sie trieben unser Vieh davon, schleppten die gestohlene Habe unserer Toten. Wir waren so voller Zorn und Hass, dass wir sie erschlugen wie Ratten und dort liegen ließen. Dass auch sie schutzbedürftige Familienangehörige haben könnten, kam uns, … nun, zumindest mir damals nicht in den Sinn. Dann nahmen wir die verstörten Kinder, das Vieh und alles Erbeutete mit in unser Winterdorf, um uns dem Zorn meines Vaters zu stellen.
Schon auf dem Rückweg begann es zu schneien, Schneeflocken so groß wie Gänseeier, Valeria. Der Sturm jagte sie waagerecht über das Land, Tage lang. Man konnte keine fünf Schritte weit sehen. Das Blut gefror einem in den Gliedern. Viele starben in jenem Winter, sogar in unserem eigenen Dorf. Als die Schneefälle endlich nachließen, lag die tödliche weiße Masse schulterhoch. Unsere Häuser waren wie Hügel und wir gelangten nur durch tiefe Gräben von einem zum anderen. Kannst du dir vorstellen, wie diese Tage für die Hilflosen in ihren ledernen Zelten gewesen sein müssen? Ohne ausreichendes Brennmaterial? Ohne Pelzwerk? Die Zeltdächer unter der eisigen Last immer weiter hernieder sinkend, … das Heulen des Sturms so laut, dass die Kinder die tröstenden Worte ihrer Mütter nicht hören konnten und diese nicht das Weinen ihrer Kinder, …“

Wanja bewegte sacht den Daumen seiner rechten Hand, welche den Leib seiner kleinen Tochter zu deckte, um ihre winzige Faust zu streicheln. Fast schien es ihm, als könne er sich durch diese Berührung aus dem Sog der Erinnerung befreien, doch vergeblich. „Und dann endlich … Stille“, flüsterte er. „Totenstille. Alles erdrückt unter der Last dieser Unmenge von Schnee, erstickt, begraben, …

Bis zum Frühjahr. Dann kam das Tauwetter. Der Schnee schmolz, die Natur erwachte und die Tiere bekamen ihre Jungen und suchten für sie nach Nahrung. Und sie fanden reichlich in jenem Frühjahr. Als …, als wir im Sommer auf das stießen, was Wölfe, Bären und Geier von ihnen übrig gelassen hatten, waren wir entsetzt. Nein, das Wort gibt es nicht richtig wieder. Es war wie eine Lähmung unserer Seelen.

Wir trugen ihre Überreste zusammen und errichteten über ihnen einen Scheiterhaufen. Und als der herunter gebrannt war, türmten wir darüber aus Soden einen Hügel auf. In den Jahren danach habe ich jedes Mal, wenn wir in die Nähe dieses Ortes kamen, viele Stunden dort verbracht. Ich habe gewacht und gegrübelt, ob ich es hätte wissen und verhindern können. Doch ich fand darauf keine Antwort. Vermutlich gibt es keine. Und selbst wenn es eine gäbe, so könnte ich die Zeit nicht rückwärts laufen lassen, um anders zu handeln. Mit dieser Bürde muss ich nun einmal leben.
Aber wenn Schnee fällt und der Wind heult, dann glaube ich manchmal zwischen diesen Tönen Kinder schreien und Frauen weinen zu hören, und dann kehren die Erinnerungen zurück, als sei das alles erst gestern geschehen.“

Wanja schwieg lange Zeit und lauschte dem Klagen des Windes und Valeria mit ihm. Ihrer beider Gedanken kreisten um die Bilder, welche er beschrieben hatte.

„Wie alt warst du damals, Wanja?“, flüsterte sie endlich.

Wie aus einem tiefen Traum erwachend hob ihr Gemahl langsam den Blick. Seine Rechte tastete nach ihren Händen.
„Ich weiß, worauf du hinaus willst, Liebste. Und ich danke dir dafür. Aber das habe ich mir auch schon so oft gesagt. Ich war jung und …“

„Wie alt, Wanja? Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich meine Worte aussprechen ließest, ehe du mir dafür dankst. Vielleicht wirst du erleben, dass es für Dankbarkeit keinen Grund gibt.“

Wanja stutzte, dann senkte er reuig den Kopf. Dies war Valeria Escarenza von Tarazona, die zu ihm sprach, und sie verlangte gehört zu werden.
„Siebzehn“, antwortete er daher leise. „Fast achzehn.“

„Also ein junger Mann, der das Verlangen und die Kraft hatte, und das Recht, die Seinen zu beschützen. Du hattest gerade die vollbrachten Greuel an deinen Verwandten gesehen. Ja, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe die Illuren bereits einmal erlebt, erinnerst du dich? Du hattest gerade die hingemordete Dorfgemeinschaft entdeckt und standest nun ihren Mördern gegenüber. Gab es irgendwelche Zweifel an der Schuld der fraglichen Illurengruppe?“

„Nein“, erklärte Wanja lustlos.

„Also würdest du und würde auch jeder andere erwachsene Amudare aus heutiger Sicht mit den Mördern genauso verfahren, wie damals?“

„Nein!“ Wanja presste die Lippen aufeinander, als sei es nicht zu spät, den unbedachten Ausruf zurück zu halten. „Ich würde nicht wieder genauso handeln. Niemals!“

„Auch nicht, wenn du ganz sicher wüsstest, dass ihre Frauen, Kinder und Alten in Sicherheit wären? Oder wenn Sommer wäre?“

„Wenn! Es war aber nicht Sommer. Ich kann nicht Äpfel und Birnen miteinander vergleichen.“

„Du sollst auch nicht vergleichen, mein Lieber. Ich möchte von dir wissen, ob ein vollständiges Auslöschen der auf frischer Tat gestellten Mörder auch aus heutiger Sicht als rechtens angesehen würde.“

„Als rechtens ja, aber …“

„Also ja. Nun eine andere Frage: Falls ihr damals von den Familien der Mörder erfahren hättet, falls also beispielsweise einer von ihnen die Gelegenheit gehabt hätte, euch um ihre Sicherheit anzuflehen … Was hättet ihr tun können? Du sagtest, der Sturm habe noch in derselben Nacht angefangen und man habe kaum einige Schritte weit sehen können. Wie lange hättet ihr von der Kampfstätte bis nach ihrem Lager gebraucht, und dann mit ihren Frauen, Kindern und Gebrechlichen von dort aus bis nach eurem Dorf? Wäre das vor dem vollen Hereinbrechen des Sturms überhaupt zu erreichen gewesen?“

„Ich weiß nicht. Wir schafften es gerade noch selber mit dem geretteten Vieh und den schwer beladenen Pferden.“

„Dann hättet ihr also womöglich bei dem Versuch, die Illuren zu retten, selber das Leben verloren.“ Sie beugte sich vor und sah ihm eindringlich in die Augen. „Wanja, selbst wenn ihr es gewusst hättet, wäre es euch nicht möglich gewesen, diese Illuren zu retten. Und selbst wenn ihr die Mörder unbehelligt weiter ziehen lassen hättet, mit oder ohne Beute, so wären sie mit ihren Angehörigen gemeinsam umgekommen. Es war nicht eure Schuld, sondern die der Illuren, welche es richtiger fanden, eure Frauen und Kinder zu ermorden, als ihre eigenen vor dem Winter in Sicherheit zu bringen.“

Wanja antwortete nicht. Was sollte er auch darauf sagen? Diese Argumente waren ihm ja nicht neu. Neben vielen anderen hatte er sich auch diese immer wieder vorgehalten, wenn ihn die Erinnerung an damals quälte. Er wusste natürlich, dass Valeria Recht hatte. Doch was sein Verstand wusste, und was sein Herz fühlte, waren ganz verschiedene Dinge.

„Du hast ja Recht“, erklärte er schließlich dennoch, um ihr zu danken und ihr Gemüt zu beruhigen. Doch war seine Stimme anscheinend noch zu rau und tonlos, denn Valeria seufzte.

„Wanja, du brauchst mir nicht zu sagen, dass ich Recht habe. Das weiß ich ohnehin. Ich will, dass du mir glaubst und vertraust. Wir werden das jetzt üben. Sprich mir nach: Die Illuren haben ihre Angehörigen aus Habgier in den Tod geführt und im Stich gelassen. Selbst wenn wir davon gewusst hätten, wäre es nicht möglich gewesen, es zu verhindern.“

Ungläubig wandte er ihr seinen Kopf zu. Doch ihr Gesicht zeigte keine Spur eines Lächelns, sie meinte das völlig ernst.
„Lass es gut sein, Valeria! Es ist lieb von dir und ich weiß, dass du Recht hast …“

„Falsch, Wanja. Was du sagen sollst, ist etwas anderes. Versuche es noch einmal: Die Illuren haben … Wie geht es weiter?“

Sprachlos starrte Wanja seine zarte, unerbittliche Gemahlin an. Sie würde nicht nachgeben. Nötigenfalls würde sie ihn die ganze Nacht bedrängen und den darauf folgenden Tag auch noch. Sie hatten solche Kraftproben schon gehabt und sie hatte sich stets als beharrlicher erwiesen als er. Auf sein Gesicht stahl sich ein verlegenes Lächeln und er wiederholte ihre Worte, um es hinter sich zu bringen.

Doch sie schüttelte energisch den Kopf.
„Das klang noch nicht überzeugend genug. Versuche es noch einmal und zwar so, als würdest du glauben, was du sagst.“

„Valeria …“

„Wanja …“ Unerbittlich stand sie vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. „Tue einfach, was ich dir sage. Umso schneller hast du es hinter dir.“

Er erhob sich mit dem Kind auf dem Arm und trat an eines der Fenster, welche nicht durch Läden verschlossen waren. Draußen wirbelten Schneeflocken verspielt an den farbigen Glasscheiben vorbei.
„Es ist genug“, sagte er entschieden. „Du hast mich aufgeheitert. Es geht mir besser. Nun …“

„Habe ich gesagt, dass ich dich aufheitern will? Dies ist keine heitere Angelegenheit.“
Valerias Stimme war scharf und Maryam regte sich unruhig.

„Du weckst sie auf“, sagte Wanja vorwurfsvoll.

Du weckst sie auf. Gib dir bitte Mühe: Die Illuren haben …“

Er drehte sich wieder zu ihr um, zwischen Gereiztheit und Lachen schwankend.
„Muss das unbedingte sein?“

„Die Illuren haben …“

Seufzend begann er das Sprüchlein aufzusagen, doch sie unterbrach ihn nach wenigen Worten.

„Gib dir mehr Mühe, Wanja, sonst dauert das die ganze Nacht. Sag es so, als würdest du es glauben.“

Langsam wurde Wanja ernstlich ärgerlich.
„Es ist genug. Ich weiß dein Bemühen zu schätzen, aber ich werde nicht länger mitmachen. Ich bin kein Kind. Nimmst du Maryam?“ Er hielt Valeria den Säugling entgegen. Doch sie trat wortlos einen Schritt von ihm zurück, ohne die Hände von den Hüften zu nehmen. Wanja zögerte. Er konnte das kleine Kind doch nicht mit hinaus in die Kälte nehmen. Ratlos sah er sich um, dann legte er Maryam sanft auf das dicke Bärenfell vor dem Kaminfeuer. Als er Valeria einen Kuss geben wollte, trat sie mit ärgerlichem Gesichtsausdruck einen weiteren Schritt zurück. Deshalb verließ er den Saal ohne ein Wort. Dass sie sich nachher wieder beruhigt haben würde, konnte er nur hoffen.

Zwei Stunden verbrachte er im Stall bei seinem Pferd, bürstete dessen bereits sauberes Fell noch einige Male, sah auch nach den anderen Pferden, überprüfte das Sattelzeug, und begriff allmählich, dass all dies nur sinnlose Versuche war, vor seinen eigenen Gedanken zu fliehen. Beim Nachtmahl war Valeria nicht zugegen und Wanja saß mürrisch schweigend an der Tafel, während seine Schüler dort unbehaglich verzehrten, was die Diener aufgetragen hatten. Anschließend vertrieben sie sich in Ermangelung von etwas Besserem die Zeit mit Würfeln, bis es spät genug war, um sich zurückziehen zu können. Wanja blieb allein vor dem erlöschenden Kamin zurück.

Sie war böse auf ihn, ernstlich böse. Und er wusste, dass es nur einen einzigen Weg gab, das zu ändern. Aber er brauchte noch ein wenig mehr Zeit, bis er in der Lage war, diesen zu gehen. Nachdenklich starrte er in die Glut. So, als glaubte er, was er sagte … Wissen, ja, das hatte er. Aber Glauben? Lautlos sagte er die Worte einige Male. Nein, das war noch nicht richtig. Er riss sich zusammen und versuchte in sich den Glauben an die Wahrheit der Aussage zu finden. Dann versuchte er es noch einige Male.
Schließlich stand er auf und sah aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr, aber der Wind heulte noch immer um die Burg, und noch immer erinnerte er Wanja an das Weinen von Kindern … doch irgendwie hörte er darin keinen Vorwurf mehr gegen sich. Er lächelte ungläubig und wiederholte noch einmal die Worte. Plötzlich klangen sie richtig. Wie Valeria das geschafft hatte, wusste er nicht, aber es war ihm auch gleich. Immer noch lächelnd eilte er die Treppen zum Schlaf gemach hoch und scheuchte den Diener fort, der ihm beim Auskleiden helfen wollte. Wann begriffen sie alle endlich, dass er dabei keine Hilfe wollte? Dann schob er den Vorhang zur Seite und setzte sich neben Valeria auf die Bettkante.

Sie schlief und ihr Gesicht sah traurig aus. Liebevoll strich er mit dem rechten Zeigefinger über ihre Wange. Sie hatte ihren Seelenfrieden geopfert, um ihm den seinen wieder zu geben. Nun blinzelte sie schläfrig und regte sich unter der dicken Pelzdecke.

„Wanja?“, murmelte sie schlaftrunken.

„Wen hast du denn sonst erwartet?“ Er beugte sich zu ihr nieder, küsste ihre nackte Schulter und sah sie auf diese Art wohlig erschaudern, die er so sehr liebte. Aber er zügelte sein Begehren und flüsterte ihr ins Ohr: „Die Illuren haben ihre Angehörigen aus Habgier selber in den Tod geführt und im Stich gelassen. Selbst wenn wir davon gewusst hätten, wäre es uns nicht möglich gewesen, das zu verhindern.“
Mit Zitat antworten
  #2  
Alt 22.06.2013, 20:51
Benutzerbild von Hobbyschreiber
Hobbyschreiber Hobbyschreiber ist offline
Drachentoeter
 
Registriert seit: 05.2010
Ort: Zumindest nicht mehr hier!
Beiträge: 1.048
Also, wenn sie hier so vollständig unkommentiert im Bodensatz versinken, ist es auch kein Wunder, dass die eingestellten Beiträge in dieser Rubrik immer spärlicher werden!

Mit Zitat antworten
  #3  
Alt 23.06.2013, 00:07
Benutzerbild von Elyan
Elyan Elyan ist offline
Drachentoeter
 
Registriert seit: 12.2012
Ort: Berlin
Beiträge: 1.217
schöne, eindrückliche Geschichte ...

ich hatte zwischendurch begonnen, die Geschichte zu lesen und dann aus mir unerfindlichen Gründen zu Seite gelegt ... mag sein, dass über 21.000 Zeichen auch recht lang sind ...

Du zeichnest die Bilder gewohnt gekonnt, Situationen und Umgebung treten spürbar hervor und ich bin gleich mitten in der Geschichte ... die Reue ist interessant für ein mittelalterliches Setting, auch die recht psychologisch wirkende Heilung ... aber warum eigentlich nicht? Ich gehe als Leser mit durch den Prozess und am Ende vibriert die Stimmung weiter in mir nach ... stimmungsvolle Nachtmelodie, mit der ich nun in das Reich der Träume gleiten kann
Mit Zitat antworten
  #4  
Alt 23.06.2013, 12:36
Benutzerbild von Elli
Elli Elli ist offline
Super Moderator
Ringtraeger
 
Registriert seit: 12.2005
Ort: Westerwald
Beiträge: 13.074
Geschrieben ist es, wie gewohnt, ausgezeichnet. Von meiner Seite aus, gibt es nichts an dem Text auszusetzen.
Nun muss ich aber dazu sagen, dass gerade solche Szenen, mich in Büchern, meist dazu verleiten, zu hoffen, schnell durch die Textstelle zu kommen.
Solche Einschübe, die für die Geschichte sicherlich nicht unwichtig sind (wobei du es ja, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht in die eigentliche Geschichte hast einfließen lassen), finde ich sie eher anstrengend. Für mich sind das meist Texte, die für mich zu viel Gerede manchmal sogar Geschnulze sind. Zwischenmenschliche Beziehungen sind für Bücher/Geschichten unabdingbar - aber für mich nur in einer bestimmten Länge.
Einer der Gründe weshalb ich bspw. den zweiten Teil von Herr der Ringe, wenn man die dreigeteilte Version wie ich hat, eher ermüdenten fand. Die ständigen Gespräche zwischen Sam und Frodo...die Zerwürfnisse, für mich war es irgendwann einfach zu viel.
Ist ein Text so lang wie dieser den du zum Besten gibst, neige ich dazu, ihn zu überfliegen. Das ist natürlich nur meine Meinung, aber ich denke kein Autor möchte, dass man Teilpassagen überfliegt.
Also...geschrieben gut, aber für mein Empfinden zu lang. Auch wenn man hier noch einen gewissen Teil der Hintergrund Geschichte von Wanja erfährt. Da ich die komplette Geschichte nicht kenne, weiß ich nicht, in wie weit du das Thema noch aufgreifst, bzw. begründest, wenn überhaupt. Allerdings ist das Setting mit seiner Tochter und Frau, nicht meine "Wellenlänge".
Bei Themen dieser Art, gilt für mich die Devise: In der Kürze liegt die Würze. ;)

btw: altes Thema ist nun im Papierkorb
__________________
Die meisten Götter würfeln, aber das Schicksal spielt Schach und zwar mit zwei Damen. - Pratchett

Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben. - Goethe



Geändert von Elli (23.06.2013 um 12:39 Uhr)
Mit Zitat antworten
  #5  
Alt 24.06.2013, 14:48
Benutzerbild von Hobbyschreiber
Hobbyschreiber Hobbyschreiber ist offline
Drachentoeter
 
Registriert seit: 05.2010
Ort: Zumindest nicht mehr hier!
Beiträge: 1.048
Hi,

dankeschön für die Kommentare!

Ja, dieser Textabschnitt hängt chronologisch irgendwie zwischen zwei Büchern. Er behandelt eine Problematik, von der schon mehrmals in den Büchern angedeutet war, wie sehr sie das Gewissen des Prota belastet. Klar, viel Action enthält sie nicht, aber es war mir wichtig, sie mal aufzuschreiben. Dadurch habe ich die Ereignisse in der Vergangenheit (vor allem für mich selber) etwas realer gemacht, ihnen mehr Plastizität verliehen. In Band vier der Reihe soll dieses Unglück aufgearbeitet werden. Dafür ist es hilfreich, dass aus einer Idee nun ein Teil von Wanjas Vergangenheit geworden ist.

Freut mich, dass Ihr es technisch gut geschrieben findet.
Mit Zitat antworten
Antwort


Themen-Optionen

Forumregeln
You may not post new threads
You may not post replies
You may not post attachments
You may not edit your posts

BB code is An
Smileys sind An.
[IMG] Code ist An.
HTML-Code ist Aus.

Gehe zu


Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 11:29 Uhr.

 
Grafik
Powered by vBulletin® Version 3.8.10 Beta 1 (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.
Copyright by Fantasy-Foren.de 2005-2017 | Fussball Forum


Grafik