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Leseproben

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Alt 17.02.2013, 13:18
Benutzerbild von Susanne Gavenis
Susanne Gavenis Susanne Gavenis ist offline
Herausforderer der Weisen
 
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Beiträge: 133
Leseproben

Bereits vor einiger Zeit hatte ich ja meine Romane mit Klappentext hier im Forum vorgestellt. Da es sich bei den Geschichten um bereits veröffentlichte Bücher und nicht um noch veränderbare work-in-progress-Projekte gehandelt hat, war ich mir unsicher, ob ich zu diesen Klappentexten auch noch Leseproben hinzufügen sollte oder nicht.
Nun habe ich aber (auch durch die neu entbrannte "Autoren verpisst euch"- Diskussion) gemerkt, dass Textauszüge auch von veröffentlichten Büchern durchaus willkommen sind und von euch nicht generell als penetrante Eigenwerbung empfunden werden, so dass ich mich entschlossen habe, an dieser Stelle nach und nach ein paar Leseproben einzustellen.
Auch wenn ich an den Texten selbst nun nichts mehr ändern kann, bin ich trotzdem sehr neugierig auf eure Rückmeldungen und verstehe diesen thread ausdrücklich nicht nur als Werbung, sondern hauptsächlich als Einladung zum lockeren Plaudern über Geschichten und Geschichten schreiben.

Beginnen möchte ich mit einer Leseprobe aus dem ersten Band des Gambler-Zyklus, nämlich dem dritten Kapitel, in dem zum ersten Mal die Bedrohung für die Erde deutlich wird. Viel Spaß damit!

Gambler-Zyklus Band 1: Der Angriff, 3. Kapitel

Der Fahrstuhl summte leise, während er an den unzähligen Stockwerken der Erdorbitalstation vorbeizog. Auf viele Menschen wirkte das Geräusch beruhigend, so hatte es sich Captain Elaine Wilding zumindest sagen lassen. Für sie war es ein Zeichen von Zeit, Zeit, die sie ungenutzt verstreichen lassen musste.
Ungeduldig trat sie in der kleinen Kabine von einem Fuß auf den anderen und begann schließlich, nervös auf und ab zu wandern. Sie war froh, dass sie den Lift heute für sich allein hatte. Es hätte auf ihre Untergebenen vermutlich einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht, wenn sie sie dabei hätten beobachten können, wie sie zappelig wie ein Kind, das auf die Weihnachtsbescherung wartete, im Fahrstuhl herummarschierte.
Mit gerunzelter Stirn hielt Elaine inne und warf den Wänden der Kabine einen missbilligenden Blick zu. Sie standen viel zu eng beieinander, sperrten sie auf einer winzigen Fläche ein, die keinen Raum für den Bewegungsdrang ließ, den sie stets verspürte, besonders in einer Stunde wie dieser, nach einem langen, ermüdenden Morgen, den sie ausschließlich in ihrem Büro hatte verbringen müssen, um ihren Verwaltungspflichten nachzukommen. Wie viel schöner war es doch, durch die endlosen Korridore der Station zu streifen, hier und da nach dem Rechten zu sehen, das geschäftige Treiben zu genießen und, wann immer es sich einrichten ließ, persönlich mit den Leitern der Abteilungen zu sprechen, von denen sie für gewöhnlich lediglich die Berichte zu sehen bekam, die sich auf ihrem Schreibtisch auftürmten.
Auch heute lag noch ein ansehnlicher Stapel dort, aber als sich die Anzeige des Chronometers 16.00 genähert hatte, hatte sie nichts mehr in ihrem Büro halten können. Die übrigen Berichte hatte sie ihrem Adjutanten Ian Fellmer zur Durchsicht dagelassen und sich anschließend auf den Weg gemacht. 16.00 war ihre Stunde, die, für die allein es sich lohnte, Captain der Erdorbitalstation zu sein.
Jeden Tag suchte sie zu dieser Zeit die große Funkleitzentrale der Station auf und beobachtete die Frachttransporter, die militärischen Kreuzer, die Passagierschiffe und all die anderen Raumgefährte, die an der Erdorbitalstation andockten oder, sofern ihre Größe das zuließ, in sie einflogen. 16.00 war der Beginn der nachmittäglichen Stoßzeit, und sie zog es vor, die Abwicklung der Kopplungsmanöver selbst zu überwachen. Was nicht bedeuten sollte, dass sie an ihrer Kommandocrew zweifelte. Sie verfügte über einen fähigen Stab, auf den sie sich verlassen konnte, aber welchen besseren Grund hätte es für sie geben können, ihrem Büro zu entkommen, als die Kontrolle über die Hauptverkehrszeit der Erdorbitalstation zu übernehmen?
Als der Lift langsamer wurde und das Summen abschwoll, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen, und es wuchs in die Breite, als die Schotten vor ihr zurückwichen und den Blick auf die Funkleitzentrale freigaben. Gedämpftes, bläuliches Licht vermischte sich mit dem grellen Schein der Deckenleuchten im Lift und umschmeichelte sie, das unterschwellige Vibrieren aktivierter Maschinen erfüllte die Luft, und Stimmen mischten sich leise mit dem Knistern beanspruchten Materials und den verschiedenen Signaltönen, die an Bord der Erdorbitalstation üblich waren.
Elaine beeilte sich, die Kabine des Lifts zu verlassen, und als sich die Schotten hinter ihr schlossen, blieb auch das helle Licht zurück. Die Funkleitzentrale mit ihrer eigenen, verzaubert anmutenden Atmosphäre nahm sie auf. Sie war riesig, eine gewaltige Kuppel im Herzen der Station, und ihre Lage wurde ihrer Bedeutung gerecht. Ohne die Funkleitzentrale wäre die Abwicklung der mehreren tausend Kopplungsmanöver, die Tag für Tag an den Docks der Station stattfanden, nicht denkbar, ganz zu schweigen von der Koordination der Anflüge. Rings um die Funkleitzentrale saßen zweihundert Fluglotsen in ihren kleinen, gläsernen Kabinen, starrten auf ihre Holoschirme, wiesen den ankommenden Schiffen Flugrouten durch das System zu, schickten Leitstrahlen für massige Frachter aus und gaben Hilfestellung für die Andockmanöver der kleineren Schiffe.
Anders als die anderen Menschen an Bord der Station arbeiteten die Lotsen nicht in vier Schichten a sechs Stunden, sondern in acht Schichten zu je drei Stunden. Nur so konnten sie die enorme Aufmerksamkeit und Konzentration, die nötig waren, um den Verkehr rings um die Erdorbitalstation sicher zu leiten, aufrechterhalten.
Elaine ließ es sich nicht nehmen, das Rund der Funkleitzentrale einmal komplett abzuschreiten und zu jedem einzelnen der Lotsen in die Kabine zu blicken. Befriedigt stellte sie fest, wie professionell und geschickt ein jeder von ihnen seiner Arbeit nachkam. Im Grunde sollte sie ihr Geschick allerdings nicht wundern, da nur die besten Männer und Frauen die Chance erhielten, auf der Erdorbitalstation Lotse zu werden. Sie wurden auf der Erdakademie in einem speziellen Ausbildungszweig auf ihre kommende Aufgabe vorbereitet, nachdem sie harte Prüfungen, die ihre Eignung zeigen sollten, durchlaufen hatten, und auch am Ende der Schulung wurde erneut ein erheblicher Prozentsatz von ihnen ausgesiebt. Wer nicht bestand, war immer noch gut genug, um auf einem Raumschiff zu dienen, doch nur die besten von ihnen durften in der Funkleitzentrale der Erdorbitalstation ihre Arbeit verrichten.
Auch für die anderen wichtigen Posten auf der Station galten ähnlich strenge Auswahlkriterien, vor allem für die Kommandocrew. Sie wurde direkt von der Admiralität bestimmt, die wiederum dem Regierungsrat untergeordnet war. Dieser Rat bestand aus Vertretern der Erde und aller Kolonien, die dort gleichberechtigt ihre Stimmen abgeben konnten, und wurde grundsätzlich bei allen wichtigen Entscheidungen einberufen.
So gesehen war Elaine Teil einer riesigen Institution, der eine noch größere übergeordnet war, nur ein Mensch, der sich gegenüber der Gesamtheit des militärischen und politischen Apparats unbedeutend ausnahm, und doch besaß sie eine Stellung, die sie weit aus der Masse heraushob.
Bereits seit drei Jahren war sie Captain der Erdorbitalstation. Als sie den Posten übernommen hatte, war sie gerade einmal 40 Jahre alt gewesen und damit einer der jüngsten Menschen, die seit Bestehen der Station auf ihr das Kommando geführt hatten. Sie war stolz darauf, so oft sie sich in der Funkleitzentrale umsah und durch den Anblick der Lotsen daran erinnert wurde, wie hart ihr eigener Weg in diese Position gewesen war. Und noch stärker füllte pure Freude ihr Herz.
Captain dieser gewaltigen, erhabenen Station zu sein, war ihr Lebenstraum gewesen, seit sie denken konnte. Schon als kleines Mädchen hatte sie nachts mit täglich neu entflammter Spannung zur Station, die als glänzender Stern am Firmament stand, hochgeschaut und sich geschworen, eines Tages auf ihr zu leben. Allein deshalb hatte sie sich als noch junge Frau an der Erdakademie eingeschrieben, und wann immer ihr Zweifel gekommen oder ihr die Anforderungen der Ausbildung als unerfüllbar erschienen waren, hatte sie zum Himmel emporgeblickt und aus dem Anblick der Station neue Kraft geschöpft.
Und letztlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Nachdem sie nur fünf Jahre lang verschiedene Raumschiffe geführt hatte, war sie zum Captain der Erdorbitalstation bestimmt worden. Das war mit Sicherheit der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen. Ihr lag nichts am Dienst auf den Schiffen der Flotte, die ihr, trotz ihrer oft imposanten Ausmaße, zu klein und zu begrenzt waren. Die Station besaß ein ganz anderes Kaliber. Hier fühlte sie sich wohl wie nie, dies war ihr Terrain, und sie beherrschte es sicher.
Nachdem sie ihren Rundgang abgeschlossen hatte, betrat Elaine über mehrere Stufen das wuchtige Podest, das einen Großteil des Raums ausfüllte. Auf ihm befand sich ein weiterer Kreis blinkender und piepender Kontrollpulte, aber sie waren nicht wie die der Lotsen der Wand zugewandt, sondern wiesen zum Zentrum des Raumes hin, zum Kernstück der Funkleitzentrale, der großen, kugelförmigen Holografie. Mit ihren über zwanzig Metern Durchmesser bot sie einen ehrfurchtgebietenden Anblick, der jedem, der sie zum ersten Mal sah, einen Laut ungläubigen Staunens entlockte, und auch Elaine erlag immer wieder ihrer abstrakten Faszination.
Die Holografie stellte das Sonnensystem komplett nach. Die Planeten und ihre Bahnen fanden sich als rote Punkte und gleichfarbige Ellipsen ebenso darin wieder wie die Hauptraumschiffsrouten, die als gelbe Linien quer durch die Kugel liefen. Kleine grüne und rote Markierungen kennzeichneten die Positionen der Schiffe im System, und da diese sich ständig änderten, war die Holografie von stetigem, pulsierendem Leben erfüllt. Vor allem in den Ballungsgebieten wie der Erdorbitalstation, der Erde oder den Stationen auf den anderen Planeten des Sonnensystems herrschte immenser Betrieb. Elaine kam es so vor, als trippelten Horden von Ameisen, deren Rücken mit leuchtenden Punkten versehen worden waren, vor den Eingängen zu ihrem Bau wild durcheinander.
Für eine Weile gab sie sich der Anziehungskraft der Holografie hin, anschließend wandte sie sich ihrem Kommandosessel zu. Links und rechts davon erkannte sie im sanft schimmernden Licht der holografischen Kugel vertraute Gesichter und lächelte freundlich. Sie kannte alle höheren Offiziere der Erdorbitalstation, aber der Commander und der Lieutenant, die heute an den Pulten neben ihrem Sitz Platz genommen hatten, waren ihr die liebsten von allen.
Commander Benton Morley war in ihrem Alter und fungierte als ihr Verbindungsoffizier zu den Schiffen oder den anderen Sektionen der Station, mit denen sie Kontakt aufnehmen wollte. Lieutenant Tom Aston, der mit seinen 25 Jahren noch ziemlich jung für einen Offizier seines Ranges war, war ihr Ortungsexperte. Beide waren ausgesprochen zuverlässig, fähig und ehrgeizig, und sie galten als ein eingespieltes Team, eine Vertrautheit, die sich in vielen gemeinsamen Schichten, die sie in der Funkleitzentrale Dienst getan hatten, herausgebildet hatte. Elaine hätte sie nicht missen wollen und hoffte, dass ihr beide noch für eine Weile erhalten blieben, bevor sie befördert wurden und nach anderen Posten strebten.
Lieutenant Aston sah nur kurz zu ihr auf und konzentrierte sich sofort wieder auf seine Kontrollen, als sie zu ihnen trat, Commander Morley erhob sich, grüßte und erstattete ihr Bericht.
„Der zivile Verkehr bewegt sich in den üblichen Bahnen, Captain. Das Aufkommen entspricht dem Durchschnitt, und es gab keine besonderen Vorkommnisse. Eine Ausnahme bildet der Konvoi von Brightlight, aber die Lotsen haben auch das im Griff.“
„Wo steht der Konvoi im Augenblick?“
Commander Morley beugte sich über sein Pult, tippte einige Tasten, und mehrere Marker im Inneren der Holografie begannen heller zu leuchten und zu blinken. „Das sind die ersten zehn Schiffe des Konvois. Ihr Einsprungpunkt befindet sich auf Route 12 auf Höhe der Marsbahn. Zehn weitere Schiffe werden noch erwartet. Sie springen im Abstand von 15 Minuten in das System ein.“
Elaine nickte zufrieden. Der zeitliche Abstand war großzügig bemessen und überschritt sogar die dafür vorgesehenen Sicherheitsbestimmungen. Mit diesem Konvoi würde es sicher keine Probleme geben.
„Wie weit sind die Startvorbereitungen der Arrow-Wing?“, fragte sie weiter.
„Sie sind so gut wie abgeschlossen. Sie können den Countdown mitverfolgen, Captain.“
Elaine trat hinter Benton Morleys Sessel. Der Commander hatte sich wieder gesetzt und rief ihr auf seinem zentralen Bildschirm die Innenansicht des Hangars auf, in dem das Kampfgeschwader Arrow-Wing stationiert war. Zwischen den gewaltigen Aufbauten nahm sich das Flaggschiff Arrow wie eine kleine Fliege aus, die kopfüber an einer Wand hing.
„Verbinden Sie mich mit Captain Stockard, Commander.“
„Aye, Captain.“
Die Innenansicht des Hangars verschwand und machte dem Blick auf die Brücke der Arrow Platz. Captain Hal Stockard, ein drahtiger, erfahrener Offizier, nickte ihr grüßend zu. „Mein Flaggschiff ist zum Ausschleusen bereit, Captain Wilding. Sobald ich die Bestätigung der anderen Schiffe habe, werden wir starten.“
„Einverstanden, Captain Stockard.“
Er deutete ein Lächeln an. „Wünschen Sie uns Glück, Captain Wilding.“
Elaine lachte verhalten. „Glück? Ich glaube nicht, dass Sie das brauchen werden. Sie haben eine gute Crew und ein ebenso gutes Geschwader. Es dürfte für Sie also kein Problem sein, ein paar Felsbrocken aus dem Weg zu räumen.“
„Sie haben natürlich recht, Captain. Meine Leute freuen sich schon auf den Einsatz. Die heutige Mission ist weitaus wichtiger als die Patrouillen, die wir üblicherweise fliegen.“
Elaine nickte. Captain Stockard hatte recht. Auf der Höhe der Jupiterbahn waren vor kurzem ein paar Asteroiden gemeldet worden, die auf eine der Raumschiffsrouten zudrifteten. Wenn sie dort den Schiffen, die sich mit hoher Geschwindigkeit der Erde näherten oder auf ihre Absprungpunkte zuschossen, in den Weg gerieten, konnte das katastrophale Folgen haben.
In der Geschichte der Raumfahrt der Erde waren derartige Kollisionen mehr als einmal der Grund für hohe Verluste gewesen, und das galt es in Zukunft unbedingt zu vermeiden. Gegenüber einer Patrouille war das tatsächlich eine ernst zu nehmende Aufgabe, da auf den routinemäßigen Flügen, die die Schiffe der Erdorbitalstation täglich durch das System unternahmen, noch nie Schwierigkeiten aufgetreten waren. Es gab im näheren und auch weiteren Umkreis der Erde und ihrer Kolonien keine anderen Völker und damit auch nichts, worauf das Militär ein besonderes Auge hätte haben müssen.
Dennoch hatten die Entscheidungsträger im Regierungsrat bisher davon abgesehen, die Macht der Admiralität zu beschneiden und ihre Gelder in vermeintlich sinnvollere gesellschaftliche Bereiche zu investieren, was zwangsläufig zu einer Reduzierung der Flottenstärke und einem Abbau des militärischen Personals geführt hätte.
Elaine hoffte, dass auch in Zukunft die besonneneren Köpfe innerhalb der Politik die Oberhand behielten, denn das Weltall war tief und weitgehend unerforscht. Trotz der bereits vierhundert Jahre währenden Raumfahrt kannten die Menschen lediglich einen verschwindend kleinen Teil der Milchstraße. Longway, die jüngste und am weitesten draußen liegende Kolonie, war gerade einmal knappe 36 Lichtjahre entfernt, und der Durchmesser des Bereichs, den die Pionierschiffe der Erde erforscht hatten, konnte noch sehr bequem mit einer zweistelligen Zahl ausgedrückt werden.
Was jenseits davon lag, war vollständig unbekannt, und es war nicht auszuschließen, dass sich von dort einmal etwas der Erde und ihren Kolonien nähern konnte, was sich als Gefahr herausstellte. Auf eine solche Möglichkeit mussten sie, um der zivilen Bevölkerung willen, vorbereitet sein, und nur eine schlagkräftige Flotte konnte im Zweifelsfall ausreichend Schutz gewähren.
Der Start der Arrow-Wing lenkte Elaine von ihren düsteren Gedanken ab. Das Flaggschiff flog zuerst aus dem Hangar aus, dichtauf folgten vier weitere Kreuzer, die der Arrow bis zur kleinsten Schraube hin glichen. Dahinter schoben sich die zehn kleineren Schiffe des Geschwaders, die wegen ihrer eigenwilligen Form im Flottenjargon als Bottles bezeichnet wurden, aus der Station.
Die Bottles kamen mit 55 Meter Länge nur auf das halbe Ausmaß der Kreuzer und mit 30 Mann war ihre Besatzung nur ein Drittel so groß. Auch ihre Feuerkraft war geringer, doch dieser Nachteil wurde durch ihre größere Beweglichkeit und ihr besseres Beschleunigungsvermögen mehr als wettgemacht.
Zusammen bildeten die fünfzehn Schiffe eine schnelle, gut ausgerüstete Einheit, und Elaine hatte höchstpersönlich dafür gesorgt, dass die Mannschaften in Form waren. In regelmäßigen Abständen hielt sie Übungen für alle Sektionen der Station ab, und das schloss die Jägerpiloten und die Besatzungen der Kampfschiffe ebenso ein wie die Crew der Funkleitzentrale oder der Gefechtsstände der Erdorbitalstation.
Doch obwohl der Sinn der Manöver von allen eingesehen wurde, würde es den Männern und Frauen der Arrow-Wing sicher gut tun, einen Einsatz zu fliegen, der endlich einmal ein konkretes Ziel besaß. Die Gelegenheiten dazu waren viel zu selten.
In der Nähe der Erdorbitalstation nahm die Arrow-Wing zunächst eine einfache Formation ein. Wie Perlen auf einer Schnur reihten sich die Schiffe hintereinander auf, erst als der vorgeschriebene Sicherheitsabstand erreicht war, brachte Hal Stockard sein Geschwader in eine pfeilförmige Formation, die von seinem Flaggschiff angeführt wurde. Die Schiffe beschleunigten und rasten der Jupiterbahn entgegen.
Während Elaine ihren Kurs in der Holografie verfolgte, dankte sie im Stillen dem Erfinder der Anti-Dilatationsgeneratoren. Jedes Schiff war heutzutage mit diesen Maschinen ebenso selbstverständlich ausgestattet wie mit Andruckabsorbern und künstlicher Schwerkraft. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das anders gewesen war, und das hatte angesichts der hohen Geschwindigkeiten, mit denen sich die Schiffe durch den Raum bewegten, zu nicht unerheblichen Problemen geführt, die sich vor allem in der Kommunikation niederschlugen. Wie könnte man auch mit einem Schiff sprechen, auf dem die Zeit langsamer verging als auf der Gegenstation, wie etwa der Erde oder der Erdorbitalstation?
Über derartige Schwierigkeiten musste man sich heute zum Glück keine Gedanken mehr machen. Die Zeitverschiebungseffekte wurden durch die Generatoren vollständig aufgehoben, und der überlichtschnelle Funk sorgte dafür, dass auch die Entfernungen zwischen Sender und Empfänger kein Hindernis für einen flüssigen Kontakt darstellten.
Während die Arrow-Wing auf das Zielgebiet zustrebte, lief Elaine vor der Holografie auf und ab. Ihren Sessel ignorierte sie wie gewöhnlich. Nach ihrem Empfinden hatte sie heute ohnehin bereits genug gesessen und genoss die Freiheit, die die riesige Funkleitzentrale ihr bot. Erst als die Schiffe den Asteroiden bereits sehr nahe gekommen waren, blieb sie erneut hinter Benton Morleys Sessel stehen.
„Schalten Sie die Holografie auf das Zielgebiet der Arrow-Wing um, Commander Morley, Durchmesser eine Astronomische Einheit um das Flaggschiff.“
„Aye, aye, Captain. Ich generiere das Bild aus den Daten der Sensorphalanx der Arrow.“
„Lieutenant Aston, Sie behalten von Ihrer Station aus das gesamte System im Auge. Informieren Sie mich, falls sich etwas Ungewöhnliches tun sollte.“
„Aye, Captain.“
Elaine trat an den Konsolen vorbei an das Geländer, das die Holografie von allen Seiten umgab, legte die Hände auf den kühlen Handlauf und beugte sich leicht vor. Die Ansicht im Inneren der Kugel hatte sich bereits geändert. Bunte Markierungen kennzeichneten die Felsbrocken, und in ihrer Nähe glommen die Lichter der Raumschiffe in kräftigen Farben vor dem schwarzen Samt des Alls. Commander Morley hatte sie gesondert hervorgehoben, damit sie sie gut erkennen konnte.
„Öffnen Sie erneut den Kanal zu Captain Stockard“, wies sie ihn an.
„Sie möchten sich offenbar kein Detail unseres Einsatzes entgehen lassen“, klang nur einen Moment später Captain Stockards Stimme durch die Funkleitzentrale.
„Sie haben es erfasst, Captain“, gab Elaine schmunzelnd zurück. „Ich hoffe, meine Neugier macht Sie nicht nervös.“
Hal Stockard lachte. „Im Gegenteil. Genießen Sie die Show.“
„Das werde ich.“
Nichts hätte sie davon abhalten können. Mit ungeteilter Aufmerksamkeit verfolgte sie die Manöver der Arrow-Wing mit. Das Flaggschiff überließ den Bottles den ersten Schuss. Sie stießen in zwei Reihen vor, zogen sich auseinander und pulverisierten mehrere kleine Felsbrocken, die den eigentlichen Asteroiden vorgelagert waren. Danach zogen sie sich zurück und machten Platz für die Kreuzer, die nacheinander die größeren Ziele angriffen. Unter den schillernden Energiebahnen zerstoben die scharfkantigen Felsen zu ungefährlichen Staubpartikeln, die sogleich in alle Richtungen des Systems davon drifteten.
Elaine war zufrieden. Die Schüsse saßen gut im Ziel, und Hal Stockard sorgte dafür, dass jede Crew einmal zum Zug kam. Der Eifer, mit dem die Soldaten zu Werke gingen, war selbst über die große Entfernung hinweg zu spüren, und es schien, als zahlten sich die regelmäßigen Manöver aus. Das Zusammenspiel der Besatzungen klappte ausgezeichnet, wie sie über den offenen Funkkanal mitverfolgen konnte.
Die kleine Asteroidenansammlung war beinahe gänzlich aufgelöst, als Lieutenant Aston nach ihr rief. „Captain, ich denke, Sie sollten sich die Daten ansehen, die gerade über Relaisstation Jupiter 45 hereingekommen sind.“
Elaine riss sich sofort von der Holografie los, eilte mit schnellen Schritten zu Tom Aston und stellte sich hinter ihn. Ihr fiel auf, dass er ungewöhnlich ernst wirkte. Meist lag ein Lächeln oder zumindest doch ein freundlicher Ausdruck auf seinem jungen Gesicht, nicht so in diesem Augenblick. Zwei tiefe, sorgenvolle Falten hatten sich in seine hohe Stirn eingegraben.
„Was haben Sie entdeckt, Lieutenant?“
Tom Aston holte ein paar Daten auf den Schirm und vergrößerte sie, so dass auch sie sie bequem ablesen konnte. „Auf der Höhe der Relaisstation ist ein Einsprung ins System erfolgt, aber es ist keines unserer Schiffe, auch kein ziviler Transporter oder irgend etwas anderes, was von der Erde stammen könnte. Vermutlich ist es nicht einmal ein Raumschiff, und wenn doch, haben wir möglicherweise ein echtes Problem. Was auch immer aus dem Hyperraum gefallen ist, besitzt einen Durchmesser von circa vier Kilometern.“
„Das ist so groß wie diese Station!“, entfuhr es Elaine verblüfft.
„Das unbekannte Objekt ist sogar noch größer, Captain. Die Erdorbitalstation ist flach, der Eindringling besitzt hingegen Kugelform.“
„Haben Sie eine Ahnung, worum es sich handeln könnte?“
„Nein, die Daten sind unvollständig, und die, die ich hereinbekommen kann, ergeben keinen Sinn. Vom Volumen her ist das Objekt um ein Vielfaches gewaltiger als die Erdorbitalstation, aber seine Masse scheint deutlich geringer zu sein. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, und alle wichtigen Parameter, wie etwa Energieortung, Strukturerfassung oder Antriebfeldscan liefern keine klaren Daten. Die Werte sind ungenau, so als könnten die Scanner das Objekt nicht richtig erfassen. Vielleicht liegt es hinter einem Tarnschild oder einem schützenden Energiefeld.“
„Welchen Kurs hat es eingeschlagen?“
„Es fliegt Richtung Erde.“
Elaine sog scharf Luft ein. „Sind Sie sicher, Lieutenant?“
„Ja, Captain, am Ziel des Objekts besteht keinerlei Zweifel. Es bewegt sich außerhalb der Standardrouten und nähert sich direkt der Erde.“
„Kreuzt es die Anflugs- und Abflugskorridore der Planeten?“
„Ja, Route 2, 12 und 24 sind betroffen.“
„Danke, Lieutenant. Behalten Sie den Eindringling im Auge.“
„Aye, aye, Captain.“
Elaine wandte sich bereits Benton Morley zu. „Commander, teilen Sie den Lotsen, die für die entsprechenden Routen zuständig sind, mit, dass sie sie räumen sollen. Ich möchte nicht, dass irgendwelche zivilen Schiffe in die Nähe dieses Dinges kommen. Lassen Sie auch die angrenzenden Routen sperren.“
Der Commander führte ihren Befehl aus, danach sah er sie fragend an. „Glauben Sie, dass Gefahr besteht, Captain?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber wir können es uns nicht leisten, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Es ist wichtig, dass wir umgehend herausfinden, womit wir es zu tun haben. Lieutenant Aston, welche Schiffe stehen dem Eindringling am nächsten?“
„Die Arrow-Wing, Captain. Ihre Scanner sind leistungsfähiger als die der Relaisstation. Wenn sie noch etwas dichter an das Phänomen herangehen, können sie sicherlich eine genauere Analyse liefern.“
Elaine nickte ihm zu und nahm gleichzeitig Kontakt mit dem Flaggschiff der Arrow-Wing auf. „Captain Stockard, Ihr Einsatz wird abgebrochen. Ihr neuer Auftrag lautet, das Objekt, das auf Höhe von Relaisstation Jupiter 45 ins System gesprungen ist, zu untersuchen. Haben Sie es bereits bemerkt?“
„Ja, Captain Wilding. Wir bekommen eine klare Ortung herein. Was auch immer da draußen ist, ist verdammt groß.“
„Gehen Sie näher heran und versuchen Sie, einen Allroundscan durchzuführen. Jedes Quäntchen Information, das Sie gewinnen können, könnte sich später als nützlich herausstellen.“
„Die Arrow-Wing geht auf Abfangkurs.“
„Eins noch: Riskieren Sie nichts, Captain Stockard. Seien Sie vorsichtig und nähern Sie sich dem fremden Objekt nicht geradlinig. Falls es mit intelligentem Leben bemannt ist, könnte es eine solche Handlungsweise als feindseligen Akt betrachten.“
Hal Stockard stieß hörbar Luft aus. „Wenn das ein Raumschiff ist ...“
Er ließ den Rest offen, aber Elaine verstand ihn auch so gut genug. „Ziehen Sie diese Möglichkeit in Betracht und programmieren Sie einen entsprechenden Ausweichkurs. Seien Sie auf alles gefasst.“
Hal Stockard lachte rau. „Ich verstehe. David soll Goliath nicht unnötig reizen. Da bleibt mir nur zu hoffen, dass er nicht bereits zornig ist.“
„Es ist Ihre Aufgabe, das herauszufinden“, erwiderte Elaine.
„Ich bringe die Arrow-Wing auf einen tangentialen Annäherungskurs, Captain Wilding. Das Rendezvous wird in fünfzehn Minuten erfolgen, den hochauflösenden Scan kann meine Crew bereits in sieben Minuten durchführen.“
„Gut. Lassen Sie den Kanal ständig offen. Ich möchte mitverfolgen können, wie sich die Lage bei Ihnen entwickelt.“
„Aye, Captain.“
Elaine wandte sich an Commander Morley. „Sorgen Sie dafür, dass sich ein zweites Geschwader zum Start bereitmacht und so schnell wie möglich die Erdorbitalstation verlässt. Außerdem sollen vier Jägerstaffeln in den Einsatz gehen. Machen Sie allen Beteiligten klar, dass wir noch nicht wissen, worum es sich bei dem Eindringling handelt, und benachrichtigen Sie auch die Erde. Die Admiralität muss erfahren, was sich hier abspielt.“
Benton Morley machte sich sofort an seine Aufgabe. Elaine sah sich kurz in der Funkleitzentrale um. Einige Lotsen waren in ihren Kabinen unruhig geworden. Sie sah es an ihrer starren Körperhaltung, und manche von ihnen blickten sogar nervös zu ihr herüber. Unter anderen Umständen hätte sie sie für ein derartig grobes Nachlassen ihrer Aufmerksamkeit gerügt, doch das Eindringen des Fremden machte ihre Reaktion nur allzu verständlich.
Ihr selbst klopfte das Herz bis in den Hals, und in ihren Ohren rauschte es. Ihre Hände waren versucht, über ihre hochgesteckten, langen Haare zu streichen, so wie sie es stets tat, wenn sie nervös wurde, aber sie unterdrückte die Geste mit Gewalt. Die Lotsen und natürlich auch Commander Morley und Lieutenant Aston kannten sie gut genug, um ihre Unsicherheit aus einer derartigen Handlung ablesen zu können, und das hätte ihre eigene Sorge noch verstärkt. Das durfte sie nicht zulassen.
Entschlossen stemmte sie die Hände in die Seiten. Sie musste um jeden Preis Ruhe bewahren, auch wenn es schwer war angesichts des Ungeheuerlichen, das sich von Höhe der Jupiterbahn her der Erde näherte. Tom Aston hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es ins System gesprungen war, aber sie konnte sich kein Sprungschiff vorstellen, das ein Ausmaß von vier Kilometern besaß. Die Menschheit war technisch noch Lichtjahre davon entfernt, Energien zu meistern, die für einen derartigen Sprung nötig gewesen wären. Andererseits hatte der Lieutenant gemeldet, dass das Objekt kaum Masse besaß. Folglich war der Sprung vielleicht nicht so energiezehrend gewesen, wie das Volumen des Eindringlings es vermuten ließ. Doch wie man es auch drehte und wendete, bedrohlich war das fremde Objekt allemal, und sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
„Captain Stockard“, rief sie, als ihre Ungeduld und Nervosität unbezwingbar wurden. „Wie weit sind Sie mit der Analyse?“
„Der Scan ist nahezu abgeschlossen, Captain Wilding. In zwanzig Sekunden erhalten Sie das komplette Ergebnis. Ich werde es an die Station Ihres Ortungsoffiziers übertragen.“
„Tun Sie das.“
In Gedanken zählte sie mit, dann sah sie Lieutenant Aston über die Schulter. Eine geballte Datenflut raste über seine Schirme, doch er griff ein, verlangsamte, filterte und strukturierte sie, so dass sich in kürzester Zeit ein sinnvolles Gesamtbild herausformte. Elaine kannte niemanden, der so schnell dazu in der Lage war wie der junge Lieutenant.
„Es ist kein Schiff, so wie wir es kennen, Captain“, berichtete Tom Aston und schaffte es, seine Emotionen weitgehend aus seiner Stimme herauszuhalten. „Der Eindringling ist kein massiver Körper, sondern besteht aus circa zwei Millionen Einzelwesen. Sie bewegen sich im Inneren einer Kugel, die durch ein starkes Energiefeld gebildet wird. Dieses Feld hat die Sensoren der Relaisstation gestört, erst die besseren Filter der Arrow-Wing konnten es durchdringen.“
Elaine krallte die Finger um die Lehne von Lieutenant Astons Sitz. „Wie groß sind die Wesen?“
„Sie scheinen etwa faustgroß zu sein, und soweit ich das anhand der Daten beurteilen kann, besitzen sie keine feste Form, sondern sind amöboid. Aber das ist auch schon alles, was ich dazu sagen kann.“
„Wie konnten sie einen Sprung ausführen?“
„Ich weiß es nicht. Die Scans haben keinerlei Technik innerhalb des Schwarms erfasst.“
„Das kann ich bestätigen“, mischte sich Hal Stockard ein. „So etwas Seltsames habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen!“
„Das gilt für uns alle, Captain“, gab Elaine mit fester Stimme zurück. Sie durfte nicht zulassen, dass sich ihre Offiziere zu sehr von ihrer Faszination einfangen ließen. „Der Schwarm stellt eine potentielle Bedrohung dar. Versuchen Sie, mit ihm Kontakt aufzunehmen.“
„Aber wie? Diese Wesen werden kaum einen Empfänger oder einen Sender besitzen.“
„Das ist nicht sicher“, erwiderte Elaine energisch. „Der Schwarm konnte einen Raumsprung vollführen, also muss er über Eigenschaften verfügen, die einer hochentwickelten Technologie gleichwertig sind. Seien Sie kreativ, Captain Stockard. Funken Sie auf allen Frequenzen, benutzen sie die Standardsprache, unterschiedliche Codes und von mir aus auch das Morsealphabet. Wenn das alles nichts hilft, können Sie auch Ihre Geschütze verwenden, um alphanumerische Codefolgen zu signalisieren, aber ich will eine Reaktion von dem Schwarm, und ich will sie bald!“
Ein Blick auf die Holografie, die längst wieder das gesamte Sonnensystem umfasste, genügte, um ihr die Bedrohlichkeit der Situation aufzuzeigen. Der Schwarm näherte sich unaufhaltsam der Erde.
„Ich beginne mit den Sendungen“, erklärte der Captain des Flaggschiffs gleich darauf.
Elaine hielt angespannt die Luft an.
„Bisher keine Reaktion ...“ murmelte Stockard. Es klang, als rede er mit sich selbst.
Elaine schritt zu ihrem Pult und betrachtete über einen ihrer Schirme die Lage auf der Brücke der Arrow. Ein Ruf aus dem Hintergrund ließ sie genauso wie Captain Stockard zusammenfahren.
„Der Schwarm sendet ein Signal“, meldete der Funkoffizier der Arrow.
Elaine beugte sich tiefer über den Sichtschirm. „Ist es codiert? Welchen Inhalt besitzt es?“
Captain Stockard gab ihre Fragen weiter und wiederholte die Antworten für sie. „Der Schwarm hat ohne Zweifel reagiert, aber nicht so, wie ich es gehofft habe. Das Signal war nicht an uns gerichtet, sondern besaß einen überlichtschnellen Impuls. Einen Inhalt konnte mein Funker nicht feststellen, aber er ist davon überzeugt, dass das Signal stark genug war, um über viele Lichtjahre hinweg eine genaue Ortung seines Ursprungs zuzulassen. Wer auch immer es auffängt, kann die Position des Schwarms und damit auch die des Sonnensystems erfahren.“
Elaine presste die Zähne aufeinander. „Das gefällt mir nicht.“
Hal Stockard machte ein ernstes Gesicht. „Mir auch nicht. Es scheint, als hätte der Schwarm seiner Heimatwelt die Entdeckung der Erde gemeldet und Unterstützung angefordert. Es fragt sich nur, wofür.“
„Ist er immer noch auf Kurs zur Erde?“, fragte Elaine Tom Aston.
„Ja, Captain. Wenn sich seine Geschwindigkeit nicht verändert, wird er die oberen Atmosphärenschichten in weniger als zwanzig Minuten erreichen.“
Elaine schüttelte grimmig den Kopf. Das würde sie nicht zulassen. „Captain Stockard, senden Sie ein Ultimatum an den Schwarm. Fordern Sie ihn auf, innerhalb der nächsten fünf Minuten den Kurs zu ändern oder auf Nullgeschwindigkeit zu gehen.“
„Aye, Captain. Und was soll ich tun, wenn ich erneut keine Reaktion erhalte?“
Plötzlich stand Elaine im Zentrum aller Aufmerksamkeit. Hal Stockards Augen brannten sich selbst über den Bildschirm in die ihren, und auch Benton Morley und Tom Aston musterten sie angespannt und besorgt. Elaine holte tief Luft. Ihr war die Tragweite der Entscheidung, die sie treffen musste, durchaus bewusst, doch sie zögerte keine Sekunde lang. Sie hatte sich ihren Posten ausgesucht, und sie liebte ihn auch in Momenten wie diesem.
„Wenn der Schwarm das Ultimatum ignoriert, eröffnen Sie das Feuer!“
Hal Stockard nickte leicht und warf einen kurzen Blick dorthin, wo sich auf seinen Kontrollen der Ortungsbildschirm befand. „Dafür werde ich Unterstützung benötigen.“
„Die bekommen Sie. Ein zweites Geschwader und vier Jägerstaffeln sind bereits auf dem Weg zu Ihnen. Außerdem werde ich eine Nachricht an die Erde durchgeben und die Empfehlung aussprechen, einige Staffeln der Atmosphärengleiter in Alarmbereitschaft zu versetzen.“
„Das ist eine gute Idee“ entgegnete Captain Stockard. „Ich beginne jetzt mit der Sendung.“
Elaine lauschte mit einem Ohr auf seine Stimme, mit dem anderen hörte sie Benton Morley zu, der sich bereits mit der Oberkommandantur der atmosphärengebundenen Streitkräfte in Verbindung gesetzt hatte.
„Zehn Staffeln werden in Kürze starten“, meldete er ihr unmittelbar darauf.
„Danke, Commander.“ Damit war sie eine Sorge los. Auf der Erde teilte man offenbar ihre Bedenken. Das war beruhigend. Weniger beruhigend war die Stetigkeit, mit der der Schwarm auf die Erde zuhielt.
„Ich bekomme keine Antwort“, brach Captain Stockard das Schweigen, nachdem die Zeit des Ultimatums verstrichen war.
Elaine ballte die Hände zu Fäusten. „Lassen Sie Ihre Schiffe nach eigenem Ermessen feuern!“
„Aye, aye, Captain.“
Die Arrow-Wing löste sich nur Sekunden später aus ihrer tangentialen Annäherung und ging auf einen direkten Abfangkurs. Die Arrow eilte den anderen Schiffen voraus und ließ die erste Salve auf das Schirmfeld niedergehen.
„Unsere Waffen zeigen keine Wirkung“, meldete Hal Stockard. „Das Feld schluckt die Energie der Strahlen. Aber das war nur ein Warnschuss. Im nächsten Anflug werden wir schwerere Geschütze auffahren!“
Er ließ seinen Worten Taten folgen, aber der Effekt blieb der gleiche.
Elaine hörte den Captain der Arrow leise fluchen. „Das habe ich noch nie erlebt. Der Schild schluckt selbst konzentriertes Punktfeuer, als würden wir mit Wasserpistolen schießen! Mit den Energien, die wir auf seiner Oberfläche freisetzen, könnte ich mein Schiff bis nach Longway katapultieren!“
„Versuchen Sie es weiter, Captain, und beziehen Sie auch die anderen Schiffe Ihrer Staffel mit in den Angriff ein“, wies Elaine ihn an.
Er setzte ihren Befehl sofort um. Die fünfzehn Schiffe der Arrow-Wing eröffneten gemeinsam das Feuer und zielten dabei auf so engbegrenzte Abschnitte des Schildes, dass sich die Wirkungsbereiche ihrer Waffen überschnitten und ihre Wucht sich potenzierte. Doch der Schild schwankte nicht einmal. Ein stetiges, enervierendes Schillern ging von ihm aus, das wogte und waberte wie die bunten Schlieren auf einer Seifenblase.
„Wir schaffen es nicht“, rief Captain Stockard schrill.
Elaine warf einen Blick auf die Holografie. „Das andere Geschwader und die Jägerstaffeln sind gleich bei Ihnen. Setzen Sie den Angriff gemeinsam fort.“
Nur zwei Minuten später erfolgte das Rendezvous. Der Raum um den Schwarm wurde trotz seiner Größe eng. Konzentriert starrte Elaine auf die Holografie, behielt mit einem Auge gleichzeitig den Schirm im Blick, der ihr die Brücke der Arrow zeigte, und lauschte auf die Audiokanäle, die Commander Morley zu den anderen Einheiten geöffnet hatte. Aber auch ihre vereinten Kräfte führten nicht zum Erfolg.
„Wir können den Schwarm nicht aufhalten, Captain“, rief Hal Stockard. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Wut, Furcht und Hilflosigkeit.
„Sie müssen es“, gab Elaine schroff zurück. „Der Schwarm ist nur noch sechs Minuten von der Atmosphäre der Erde entfernt!“
„Das ist mir bewusst, aber ...“
Ein Schrei, der über einen der Audiokanäle hereinkam, unterbrach Hal Stockard abrupt. Elaine fuhr erschrocken zu Commander Morley herum.
„Was ist passiert?“
„Ein Jäger hat die Kontrolle verloren. Er rast direkt auf das Energiefeld des Schwarms zu!“
„Wie konnte das geschehen?“
„Ich fürchte, einer seiner Kameraden hat ihn mit einem Streifschuss erwischt.“
Elaine fluchte heftig, trat zum Geländer, legte die Hände darauf und starrte angespannt in die Holografie. „Komm schon, Junge, zieh hoch, dann schaffst du es“, flüsterte sie.
Aber der Jägerpilot schaffte es nicht. Elaine zuckte zusammen, als das kleine Raumschiff den Schirm berührte, und erwartete in der gleichen Sekunde die Verlustmeldung. Doch nichts geschah.
„Captain, der Jäger konnte den Schild durchdringen!“, rief Lieutenant Aston atemlos.
„Ich sehe es“, erwiderte sie. Das Raumschiff bewegte sich frei innerhalb des Schwarms, schoss wild um sich, und zum ersten Mal zeigten seine Strahlen Wirkung. Aber nur etwa dreißig Sekunden, nachdem der Jäger in den Schwarm eingetaucht war, stellte er plötzlich das Feuer ein.
Elaine warf Benton Morley einen fragenden Blick zu. „Der Staffelführer meldet, dass er den Kontakt zu dem Jägerpiloten verloren hat“, erklärte dieser.
Elaine unterdrückte ein zorniges Knurren, dann wandte sie sich der Sichtsprechverbindung mit der Arrow zu. „Der Jäger hat uns soeben die verwundbare Stelle der Wesen aufgezeigt, Captain Stockard. Führen Sie Ihr Schiff in den Schwarm und versuchen Sie, ihn von innen heraus zu vernichten!“
„Aye, aye Captain“, bestätigte Hal Stockard sofort, obwohl sein Gesicht um eine Nuance bleicher wurde.
„Seien Sie auf der Hut“, riet Elaine ihm. „Der Jägerpilot ist nicht mehr in der Lage, sein Schiff zu steuern oder zu schießen. Das könnte an dem Defekt liegen, den der Streifschuss verursacht hat, es wäre aber auch denkbar, dass der Schwarm dafür verantwortlich ist.“
Captain Stockard nickte nur, seine Worte galten bereits seiner Kommandocrew. Sie bereiteten den Anflug in den Schwarm vor.
Elaine biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Die Zeit wurde allmählich knapp. „Viel Glück“, flüsterte sie kaum hörbar. Jetzt konnte er es wahrlich gebrauchen!
Die Arrow näherte sich dem Schirmfeld im spitzen Winkel. Elaine hielt den Atem an. Falls das Feld das Schiff nicht so wie den Jäger passieren ließ, würde es an ihm zerschellen, denn bei der hohen Geschwindigkeit wäre ein tödlicher Aufprall unausweichlich.
Irgendjemand schrie leise auf, als die Arrow das Energiefeld berührte. Elaine wusste nicht, wer es gewesen war, vielleicht Lieutenant Aston, aber wenn sie ehrlich war, hätte der erschrockene Laut auch ebenso gut von ihr selbst stammen können.
„Wir sind im Schwarm!“, meldete Hal Stockard, und seine Worte klangen klar und deutlich auf. Auch die Sichtverbindung war tadellos. Wie auch immer das Energiefeld beschaffen war, es störte die Kommunikation nicht im Mindesten.
Doch ein Grund zum Aufatmen war das noch lange nicht. Die Arrow schoss aus allen Rohren und riss Tausende, vielleicht sogar Zehntausende der Wesen in den Tod, aber es waren viel zu viele, als dass das eine allzu große Wirkung gezeigt hätte.
„Es sind so verdammt viele“, knurrte auch Captain Stockard. Sein Gesicht war noch immer bleich.
Plötzlich klangen Schreie im Hintergrund der Brücke der Arrow auf. Captain Stockard fuhr herum und sprach mit einem jungen Offizier, der offensichtlich kurz davor stand, die Fassung zu verlieren.
„Wie ist Ihre Lage?“, fragte Elaine, als der Captain sich ihr wieder zuwandte.
„Nicht gut. Die Wesen sind in die Arrow eingedrungen und greifen meine Crew an!“
„Wie ist das möglich?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie tauchen aus dem Nichts auf. So wie es scheint, können sie massives Metall ungehindert durchdringen. Entschuldigen Sie mich, Captain Wilding.“ Seine nächsten Worte richtete er an seine Mannschaft. „Achtung, Eindringlingsalarm! Jeder bleibt auf seinem Posten, aber bewaffnet euch und achtet auf die Amöboiden. Schießt sie ab, wenn sie euch zu nahe kommen!“
Plötzlich sah Elaine einen Schemen durchs Bild huschen. Er war so schnell, dass man ihn kaum erkennen konnte, aber der satte Laut, mit dem er sich auf einen Mann der Brückencrew heftete, ging ihr durch Mark und Bein. Der Mann riss entsetzt die Augen auf und sackte in die Knie. Nur eine Sekunde später fiel er lang hin und blieb regungslos liegen. Hal Stockard sprang sofort zu ihm hin, drehte ihn auf den Rücken und tastete nach seinem Puls. Auf der Stirn des Mannes klebte eine weißliche Masse, die übelkeitserregend zuckte und waberte.
Gleich darauf richtete sich Hal Stockard wieder auf, schwankte für eine Sekunde und wich hastig von dem Befallenen zurück. Mit starrem Gesicht sah er zu ihr hin. „Er ist tot, Captain Wilding. Diese elenden Biester töten meine Crew!“
Auch aus anderen Abteilungen des Schiffes wurden die ersten Toten gemeldet, gleichzeitig drangen neue Schemen in die Zentrale ein. Trotzdem fragte Captain Stockard nicht, ob er den Einsatz abbrechen sollte, und auch Elaine schwieg. Sie konnte ihm nicht den Rückzug befehlen. Sein Schiff vernichtete noch immer in jeder Sekunde Tausende der Wesen. Im Moment war es ihre einzige Chance, sie zu stoppen, und da sich die Amöboiden inzwischen als eine tödliche Bedrohung herausgestellt hatten, war es wichtiger als je zuvor, sie von der Erde fernzuhalten.
Auf der Brücke der Arrow brach das Chaos aus. Schüsse peitschten durch den Raum und verschmorten Kontrolltafeln und Schaltpulte, Menschen schrien und suchten Deckung, und zwischen ihnen huschten die weißen Schemen wie Irrwische hin und her. Keine zwei Minuten später hatten sie mehr als die Hälfte der Brückencrew getötet, und immer mehr von ihnen fielen. Die bizarren Wesen waren zu schnell, als dass die verängstigten Männer und Frauen sie mit den plumpen Strahlenwaffen hätten erwischen können. Hal Stockard stand direkt im Erfassungsbereich der Kamera, als ein Amöboid ihn traf. Er klatschte ihm wie ein nasser Lappen auf die Stirn, und im gleichen Moment weiteten sich seine Augen so sehr, als wollten sie ihm aus den Höhlen quellen. Ein erstickter Laut kam über seine Lippen, sein Blick brach, und er sackte leblos zu Boden.
Elaine eilte zu ihrem Pult, gab den Kommandocode ein, der ihr den Zugang zu allen Sensoren der Arrow ermöglichte, und rief die Daten ab. Nur eine Sekunde später wandte sie sich steif von ihrem Schirm ab.
„Sie sind alle tot“, presste sie mühsam hervor. Für einen Moment rang sie um ihre Beherrschung, dann fasste sie sich wieder. „Commander Morley, melden Sie der Erde sofort die höchste Alarmstufe. Wir werden von feindlichen Aliens angegriffen!“
„Der Schwarm hat die Atmosphäre fast erreicht“, sagte Lieutenant Aston mit dünner Stimme.
Elaine hatte es bereits selbst gesehen und wollte eben einen weiteren Befehl erteilen, als plötzlich das Schirmfeld zusammenbrach. Der Schwarm floss auseinander, verlor seine kugelförmige Gestalt und drang wie ein heftiger Regenschauer in die Atmosphäre ein.
„Die Amöboiden zerstreuen sich“, rief Tom Aston.
„Die Jäger sollen ihnen folgen und sie abschießen!“
„Die Gleiterstaffeln, die von der Erdoberfläche aus starten, sind unterwegs, um die Wesen abzufangen“, erklärte Benton Morley.
„Halten Sie mich auf dem Laufenden, Commander.“
„Aye, aye, Captain.“
Sekunden vergingen in tiefem Schweigen, dann meldete sich erneut Benton Morley zu Wort. „Die Jäger und die Gleiter verfolgen die Amöboiden, haben aber ernste Probleme. Die Wesen sind zu klein für die Zielerfassungsscanner, und ihre Struktur behindert ein sicheres Anvisieren ebenfalls.“
„Wie hoch ist die Trefferquote?“
„Kaum 25 %.“
„Das ist zu wenig. Viele der Wesen werden bis zur Erde durchkommen, und dann ...“
Sie unterbrach sich. Die erschrockenen Blicke ihrer Offiziere zeigten ihr, dass sie längst begriffen hatten, was geschehen würde.
Ihre düstere Ahnung bestätigte sich. Nur wenige Minuten später erreichten die ersten Schreckensmeldungen die Station. Amöboide waren über verschiedenen Städten der Erde aufgetaucht, und wo immer das geschah, starben gleich darauf Menschen. Erst waren es nur einzelne, gleich darauf bereits Dutzende, und nur wenig später stieg die Zahl der Opfer weit über die Hundertergrenze hinaus. Und noch immer waren große Teile des Schwarms in der Atmosphäre unterwegs.
Erschüttert ließ sich Elaine in ihren Sessel fallen. Ihre Hände umklammerten die Lehnen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Mit starrer Miene verfolgte sie das Gemetzel. Es war ein Albtraum, und er schien kein Ende zu nehmen.
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  #2  
Alt 18.02.2013, 14:36
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Valar Dohaeris
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Wow, meine Güte, das nenne ich eine gewaltige Vorstellung. Wirklich toll gezeichnete Bilder. Ich komme mit vor als hätte ich gerade den Ausschnitt eines guten Science Fiction Films gesehen. Der Schreibstil ist sehr gut und angenehm zu lesen. Man hat absolut keine Schwierigkeiten sich den Schauplatz und die Menschen drumherum vorzustellen. Am Anfang dachte ich mir ui, das ist ein bisschen zäh aber so ist es nunmal, wenn man etwas Neues erfunden hat und das dem Leser begreifbar machen soll. Sehr gut umgesetzt. Auch die Idee mit dem Feindobjekt ist toll. Als ich Anfangs großes kugelförmiges Objekt gelesen hab, musste ich gleich an den Todesstern denken und hab deshalb kurz die Stirn gerunzelt aber was dann kam ... ja das gefällt mir. Mir flattern gerade irrsinnig viele Filme im Kopf herum, Star Wars, Raumschiff Enterprise, Battle LA, ... und dennoch hat die Geschichte eine eigene Note.
Der Aufwand mit der Informationenbeschaffung usw muss enorm gewesen sein, denn die Beschreibungen zeugen von sehr viel Hintergrundwissen.^^ Super

Einziges was meinen Lesefluss doch manchmal ziemlich gestört hat, war die Sache mit den Wortwiederholungen. Es waren zwar nicht viele, naja eigentlich waren es um genau zu sein nur zwei:
Erdorbitalstation und Funkleitzentrale - wobei ersteres mir am extremsten aufgefallen ist weil ich immer wieder über die Aussprache gestolpert bin^^.
Also wie gesagt, das war der Einzige Minuspunkt.
Toll gemacht.
__________________
Du ahnst nicht wie kostbar das Leben sein kann, solange du nicht selbst Leben erschaffen hast.

Geändert von Laura (18.02.2013 um 14:40 Uhr)
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  #3  
Alt 18.02.2013, 17:03
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Jahaha, großes Kino!!! Die Anfangssequenz erinnert mich an die Stimmung bei "Mark Brandis" und dann das ganze von Laura beschriebene Programm und dennoch etwas unverwechselbar Eigenes. Toll! Ich bin ganz langsam in die Geschichte hereingezogen worden, kam immer näher und saß zum Schluss mit bleichem Gesicht auf Elaines Sessel!

Kleine Anmerkungen am Rande (ändern lässt sich ja nix mehr, wenn ich das richtig verstanden habe):

Elaine riss sich sofort von der Holografie los, eilte mit schnellen Schritten zu Tom Aston und stellte sich hinter ihn. (Da ist sie bereits alarmiert, sie wird nicht erst unruhig als sie in sein Gesicht schaut ...) Ihr fiel auf, dass er ungewöhnlich ernst wirkte...

Die Kugel könnte auch ein ellipsenförmiges Ding sein, damit nicht die Assoziation zum Todesstern aufkommt ... aber vielleicht ist die ja sogar gewollt. Die Ellipse könnte natürlich auch an die Eukalyptus von Hans Joachim Alpers und Robert M. Hahn erinnern ... an anderer Stelle wurde ja schon einmal gesagt, dass irgendwie alles bereits in i.einer Form gedacht und geschrieben wurde.

... unterdrückte die Geste. "...mit Gewalt." würde ich weglassen.

Dann fallen ein paar Wortwdh. auf (Sprung, Bedrohung...).

Das mit dem amöboid finde ich übrigens eine schöne Idee!!! Insgesamt faszinierender Einstieg, macht Freude zu lesen!
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  #4  
Alt 18.02.2013, 19:30
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Susanne Gavenis Susanne Gavenis ist offline
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Es freut mich, dass euch die Leseprobe gefallen hat. Da ich beim Schreiben auch immer das Gefühl habe, in einen Film einzutauchen, der sich gerade in meinem Kopf abspielt, ist es natürlich ein großes Kompliment, wenn du, Laura, beim Lesen auch das Gefühl hattest, einen Film anzuschauen.
Dass du den Einstieg in die Szene ein wenig zäh fandest, kann ich verstehen, obwohl ich mich bemüht habe, zunächst nur das Allerwesentlichste an Informationen zu liefern, die der Leser benötigt, um sich das Setting und das Vorgehen gegen die Aliens vorstellen zu können. Du sprichst da ein Problem an, mit dem sich, so vermute ich, jeder schon einmal herumschlagen musste, der eine Geschichte konzipiert hat, nämlich den Spagat zu meistern zwischen der Notwendigkeit, einen neuen und wichtigen Handlungsschauplatz samt neuer Hauptfiguren einzuführen und dabei andererseits die Story nicht so weit zu vernachlässigen, dass der Leser sich dabei langweilt.
Bringt man zu schnell zu viel an Exposition, fragt sich der Leser, was das nun alles mit der Handlung zu tun hat und wann es denn nun endlich weitergeht, bringt man zu wenig Informationen über das Setting und neu eingeführte Figuren (vielleicht gerade aus der Angst heraus, den Leser damit zu langweilen) und steigt sofort mit krachiger Action ein, läuft man als Autor Gefahr, sich bei seiner Geschichte in Äußerlichkeiten zu verlieren und die Charakterentwicklung zu vernachlässigen (was den Leser auf lange Sicht noch mehr anödet, schließlich sind es letzten Endes immer die interessanten Figuren, die einen Leser auf die weitere Geschichte neugierig machen, und nicht die Anzahl cooler Explosionen).
Von daher ist dieser Aspekt immer ein Balanceakt, gerade bei der Konzeption von langen Romanen.
Bei deinem Stolpern über das Wort Erdorbitalstation gebe ich dir recht. Ich hatte mir gerade zu diesem Punkt vorher einige Überlegungen gemacht, um den Lesefluss mit solchen langen Wörtern nicht unnötig zu verkomplizieren. Zuerst hatte ich überlegt, die Erdorbitalstation nach mehrmaligem Nennen nur noch knapp als EOS zu bezeichnen, was aber irgendwie für mich gar kein Flair mehr hatte. Dann hatte ich mir einige klangvolle Eigennamen dafür ausgedacht, die mir aber für eine sehr nach ökonomischen und militärischen Kriterien konzipierte orbitale Raumstation letztlich wiederum zu blumig und exotisch erschienen. So bin ich schließlich bei der langen Schreibweise geblieben.
Die Sache mit dem Hintergrundwissen hat sich in dieser Phase der Geschichte hauptsächlich darauf beschränkt, dass ich meine durchaus beschränkten zeichnerischen Fähigkeiten zusammenraffen musste, um eine genaue Risszeichnung der Erdorbitalstation zu entwerfen, da ich für die weitere Handlung genau wissen musste, wo sich z.B. die Hangars für die Raumschiffe, die Quartiere der Mannschaften, die Sanitätsstation u.ä. befinden.
Die meisten anderen Vorüberlegungen sind (neben der Ausgestaltung der Gambler-Mutation, die für die gesamte Geschichte der Dreh- und Angelpunkt ist) in die Konzeption der Aliens geflossen. Wie ja bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert worden ist und wie ihr beide es ja auch betont, ist es weder in der Science fiction noch in der Fantasy (oder irgendwo anders) möglich, das Rad komplett neu zu erfinden. Als Autor bedient man sich letztlich immer aus einem unendlichen Fundus an Ideen, die andere bereits vor einem hatten, und versucht, die altbekannten Elemente trotzdem auf eine individuelle und kreative Weise zu variieren.
Von daher war es mir von Anfang an besonders wichtig, mich mit meinen Aliens nicht zu sehr an die vertrauten Muster aus Literatur und Film anzulehnen und z.B. eine riesige Alienraumflotte vor der Erde auffahren zu lassen, die dann mit relativ orthodoxen Methoden im Raumschiff -gegen- Raumschiff-Dogfight bezwungen wird. Das Problem war, die Bedrohung durch die Aliens so zu gestalten, dass die Erde mit all ihrer technologischen und militärischen Potenz dennoch zunächst hilflos und der Kampf gegen diese Bedrohung nur den Gamblern mit ihren speziellen Fähigkeiten möglich ist - was mich wirklich einiges an Gehirnschmalz gekostet hat.
Von daher habe ich beim Schreiben überhaupt nicht an den Todesstern u.ä. gedacht, sondern bewusst versucht, meine Ideen von diesen Konzepten (gewaltige und todbringende Megatechnologie, die mit noch gewaltigerer und noch todbringenderer Megamegatechnologie bekämpft werden muss) wegzubewegen.

Auch wenn ich mich jetzt als Banause outen sollte: Mark Brandis kenne ich nur dem Namen nach. Ich weiß noch nicht einmal, ob es richtige lange Romane sind oder eine Heftromanreihe oder Hörspiele (wie Commander Perkins - den kenne ich!), und auch von der Eukalyptus habe ich noch nie gehört (klingt niedlich, evtl. bemannt mit Koalabärchen?)
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  #5  
Alt 18.02.2013, 20:04
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Hahaha, bemannt mit ... lach.tränenwegwisch ... hahaha ... oooh, Susanne Gavenis, you make my day! Grossartig! Nene, das ist ein Raumschiff, dass von den Besatzungsmitgliedern verlassen und durch eine Katastrophe aus der Erdumlaufbahn geworfen wurde ... nur ... das Raumschiff ist nicht ohne Leben. Neben den urwaldähnlichen Plantagen an Bord befinden sich noch Menschen an Bord ... Kinder ... eigentlich sollten sie dort nur zur Erholung sein ... und sind nun völlig auf sich alleine gestellt. Sehr spannendes Jugendbuch! Ich habe es geliebt!

Mark Brandis ist für mich ein Klassiker, 31 Bände (richtige Bücher), gab es später dann auch als Hörbücher!

Den Spagat hast Du gut beschrieben. Mir hat Dein langsames Hereinziehen in die Geschichte gut gefallen. Für meine eigenen Erzählungen beginne ich meistens mitten in der Handlung, die ruhigeren, beschreibenden Element füge ich meist ein, wenn die Handlung bereits im vollen Gange ist ... aber wie gesagt, ich fand den Verlauf hier spannend gelöst!!!

Interessant fand ich auch, dass Du eine Skizze gemacht hast (die brauche ich beim Schreiben auch immer, ansonsten laufen meine Protas zuerst nach links, obwohl da gerade noch ne Sackgasse war ... und ich hasse unlogische Details) - legst Du Dir auch Landkarten oder ähnliches an?
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  #6  
Alt 19.02.2013, 19:31
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Susanne Gavenis Susanne Gavenis ist offline
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Freut mich, dass mein Flachwitz mit den Koalabärchen so gut bei dir ankam!
Das Setting mit der Eukalyptus klingt nett, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man daraus eine spannende Geschichte machen kann.

Bei der Sache mit dem Spagat bin ich sicherlich ein Autor, der seine Geschichten eher langsamer aufbaut, obwohl ich es bei einigen meiner Romane, bei denen es gepasst hat, dann doch genau anders herum gehandhabt habe. Bei diesen Geschichten habe ich dem eigentlichen Beginn der Handlung jeweils einen Prolog vorangestellt, in dem ich zuerst den Bösewicht und die Bedrohung für die späteren Protagonisten in einer durchaus etwas heftigeren Weise eingeführt und dann mit dem ersten Kapitel meine Helden und das Setting behutsamer und dosierter nachgereicht habe (im Vertrauen darauf, den Leser mit dem Prolog inklusive der aufgespannten Gefahr für die Protagonisten so neugierig gemacht zu haben, dass er von Anfang an um die Figuren zu bangen beginnt, obwohl zunächst nichts Bedrohliches mehr passiert).

Ob ich mir für eine Geschichte irgendwelche Skizzen oder Landkarten anfertige, hängt sehr von der Art der Geschichte ab. Für eine Geschichte (die ich schon mal in dem "Schreibt ihr Bücher?"-Thread erwähnt habe), in der es um den Umsturz des Königs eines friedlichen Landes durch eine Intrige des Nachbarreichs ging, war es für die Handlung von entscheidender Bedeutung, wie der Palast dieses Königs aussah, so dass ich das ganze Ding mit meinem Bleistift zu Papier gebracht habe, ebenso wie die Stadt drumherum mit den einzelnen Vierteln, die für geplante Attentate und Fluchtwege relevant waren.

Bei einer anderen Geschichte (der fetten SF-Idee, über die ich ebenfalls in obigem Thread geschrieben habe) habe ich von einem Teilkontinent eines Planeten, auf dem ein Teil der Handlung spielte, eine detaillierte Landkarte gezeichnet, einerseits, um das Setting beim Schreiben plastischer vor Augen zu haben und andererseits, um die Wege meiner Figuren durch die Landschaft selbst besser mitverfolgen zu können und mich nicht beispielsweise bei den Entfernungen und Reisezeiten krass zu verschätzen (was ärgerlich, weil vermeidbar ist. Es ist immer unangenehm, wenn die Leser einem Autor beim späteren Lesen genau auseinandersetzen, warum eine bestimmte Figur unter diesen bestimmten Bedingungen die Strecke zwischen A und B nie und nimmer in der angegebenen Zeit zurückgelegt haben kann, und man es vielleicht nicht mehr korrigieren kann.).
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  #7  
Alt 26.10.2013, 13:56
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Susanne Gavenis Susanne Gavenis ist offline
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Anlässlich der Veröffentlichung meines neuen Fantasy-Romans "Wächter des Elfenhains" möchte ich an dieser Stelle wieder eine kleine Leseprobe vorstellen. Es handelt sich dabei um den Prolog und einen Teil des ersten Kapitels, ist also, anders als die Leseprobe zum Gambler-Zyklus, tatsächlich der Beginn des Romans. Auch wenn das Buch schon erschienen ist, freue ich mich trotzdem wie immer auf Rückmeldungen!

Prolog

Die Sylphen und Dryaden des Waldes stoben in Panik auseinander, als Ogaire an’Tairdym, einer düsteren Naturgewalt gleich, an ihnen vorüberzog. Wohin auch immer er seine Schritte lenkte, verstummten Gesang und Gelächter, erstarrten die anmutigen Tänze der Wind- und Baumgeister in jähem Entsetzen, verzerrten Grauen und Furcht ihre zarten, im goldenen Licht der Sonne strahlenden Gesichter.
Nur einen Wimpernschlag später waren sie fort, wurden eins mit den mächtigen Stämmen der Bäume, ihrem dichten grünen Blattwerk und den knorrigen Wurzeln; jene, die nicht wie die Dryaden die Fähigkeit besaßen, in der Verschmelzung mit den majestätischen Eichen, Buchen und Kiefern des Elfenhains Schutz und Sicherheit zu finden, jagten in kopfloser Flucht davon oder kauerten sich mit ihren winzigen Körpern zitternd in den Schatten der Grashalme und Wiesenblumen, um deren leuchtende Blüten noch einen Moment zuvor dichte Wolken von Sylphen und Blütenfeen zur lautlosen Melodie des Windes ihre ätherischen Tänze in die warme Sommerluft gewoben hatten.
Ogaire spürte die Blicke ihrer aufgerissenen, schreckensstarren Augen, die ihn verfolgten, während er mit gleichgültiger Miene seinem Ziel entgegenschritt. Die Wesen des Kleinen Volkes schienen genau zu wissen, was er plante, waren zu sehr Teil der Natur und alles Lebendigen, um nicht die kalte Entschlossenheit wahrzunehmen, die ihn erfüllte und wie ein tödlicher Nebel von ihm ausstrahlte. Es kümmerte ihn nicht. Die Zeit der Entscheidung war gekommen. Keine Macht der Welt würde ihn jetzt noch aufhalten können.
Auch der Säugling hatte das begriffen. Ohne innezuhalten oder sein Tempo zu verlangsamen senkte Ogaire den Blick, betrachtete gleichmütig das wimmernde Bündel, das er achtlos wie einen alten Lumpen mit seiner rechten Hand gepackt hielt. Normalerweise schrien Elfenkinder nicht, wurden sie doch mit wachem Geist geboren, dieses hier aber schrie so durchdringend, als stecke ein Messer in seinem kleinen Leib.
Seine winzigen Händchen waren zu Fäusten geballt, als versuche es mit all der armseligen ihm zur Verfügung stehenden Kraft, sich aus der stählernen Umklammerung zu befreien, und in seinen großen Babyaugen flackerte nackte Angst. Obwohl es eben erst geboren worden war, konnte es natürlich wie jeder Elf die Gefühle und Absichten eines anderen erspüren, und Ogaire machte sich nicht die Mühe, die seinen vor ihm zu verbergen, ebenso wenig wie er es für wert erachtet hatte, seinem Sohn nach alter Elfentradition bei dessen erstem Blick in die Augen des Vaters einen Namen zu geben. Er würde ohnehin keine Gelegenheit haben, ihn zu tragen.
Die Mutter war bereits tot. Kurz vor der natürlichen Geburt hatte er das Kind aus ihrem Leib geschnitten, danach sofort mit seinem Dolch ihr Herz durchbohrt – der erste unabdingbare Teil des magischen Rituals, auf dessen Durchführung er seit Jahrhunderten hingearbeitet hatte.
Bald schon würde er es weiterführen, im Herzen des Hains, dort, wo die Lebenskraft noch mit ungebrochener Reinheit und Stärke pulsierte. Es war nicht mehr weit.
Die qualvollen Schreie des Säuglings waren die einzigen Laute, die ihn nun noch begleiteten. Die Natur selbst schien furchtsam vor seiner Gegenwart zurückzuweichen, das Gras unter seinen Stiefeln allein durch seine Berührung schlaff und leblos zu werden. Die Zweige der Büsche und Sträucher erbebten wie verwundete Tiere, als er sich rücksichtslos seinen Weg durch das Unterholz bahnte, und überall um ihn herum schlossen sich die Blüten der Waldblumen wie die Augen von Sterbenden, krümmten sich die Blütenfeen im Inneren der Kelche hilflos unter dem Ansturm der Qual, die in eisigen Wellen über sie hinwegrollte.
Schatten jagten wie entfesselte Dämonen über den sonst so lichten Hain, und das leuchtende, vitale Grün der Bäume und Gräser verwandelte sich mehr und mehr in ein stumpfes, düsteres Grau, als schwarze Wolken mit rasender Geschwindigkeit am vormals blauen Himmel aufquollen – weithin sichtbares Zeichen des ohnmächtigen Entsetzens der Wind- und Wettergeister.
Ogaire hatte keinen Blick dafür übrig. Er spürte die Nähe des Herzens, lange bevor er es tatsächlich sah, spürte den lautlosen Pulsschlag des Lebens, der wie der Atem eines Gottes durch die unbewegte Luft strich, die nun, da sich die Sylphen ängstlich in den Wolken verkrochen, schwül und stickig geworden war. Seine Augen, die nach den langen Jahrhunderten, die er auf den beinahe vergessenen und furchtsam gemiedenen Pfaden dunkler elfischer Magie zugebracht hatte, mehr zu sehen vermochten als die eines jeden anderen Elfen, durchdrangen mühelos das unheimliche Zwielicht der vorzeitig hereingebrochenen Nacht, und als er schließlich die letzten Bäume hinter sich zurückließ und auf die weite, grasbewachsene Lichtung hinaustrat, sah er, was kein anderer vor ihm jemals erblickt hatte.
Das Herz des Waldes – seine Lebenskraft – lag offen vor ihm. Seine schwarzmagisch veränderten Sinne zerrissen den Schleier, zerrten hervor, was seit Anbeginn der Zeit im Ursprung des Seins verborgen gewesen war, und einen Moment lang stand er reglos da, betrachtete mit unbewegter Miene das Mysterium, das nun, nach all den mühsamen Jahren des Forschens und Suchens, endlich zum Greifen nahe war.
Ströme silbrigen Lichts flossen über die Lichtung, wogten lautlos und majestätisch wie ein Meer aus Mondstrahlen zwischen den uralten Eichen, Tannen und Erlen, die den Rand der Wiese säumten. Einige der leuchtenden Stränge waren dick wie der Arm eines Mannes, andere so zart und filigran, dass selbst der Flügelschlag einer Blütenfee zu genügen schien, um sie wie Kerzenrauch in einem Wintersturm auseinanderzuwehen.
Und doch spürte er selbst in ihnen die unbändige Kraft des Lebens, spürte die ungeheure Vitalität und Macht, die in ihrem Silberglanz verborgen lag und jeden Grashalm, jeden Baum und jedes Blatt auf der Lichtung in unwirkliche Helligkeit tauchte. Nun, da er seinen Sinnen gestattete zu sehen, fühlte er die prickelnde Energie, die zusammen mit dem Licht über seine Haut strich, sanft wie ein Frühlingsregen sein Gesicht benetzte und über seine Arme und Beine perlte.
Hätte er es nicht bereits gewusst, so hätte er spätestens jetzt keinen Zweifel mehr gehabt. Egal ob Blütenfee oder Elf, Dryade oder Regenwurm, hier war der Ort, an dem jegliche Unterschiede ihre Bedeutung verloren. Denn so verschiedenartig sie auch waren, sie alle wurden genährt von der Quelle, dem Zentrum des Lichts, das Ehrfurcht gebietend und erhaben wie ein vom Himmel herabgefallener Stern in der Mitte der Lichtung schwebte. Wie Arterien und Venen, die einem gewaltigen Herzen entsprangen, sprossen die silbrigen Stränge aus der weißglühenden Kugel hervor, Myriaden schimmernder, pulsierender Adern, Nabelschnüre aus Licht, die jedes Lebewesen, von der winzigsten, hirnlosesten Amöbe bis zu den feingeistigen, zartgliedrigen Elfen, vom unscheinbarsten Strauch bis zur mächtigsten Eiche, mit dem Ursprung allen Seins verbanden.
Auch zu ihm führte ein solcher Strang, doch wo die meisten anderen um ihn herum vor Energie und Vitalität schier zu bersten schienen, war der seine im Verlauf der Jahrhunderte dünner und dünner geworden, war kaum noch mehr als ein zerschlissener, ausgefranster Faden, der schon allzu bald reißen würde.
Aber natürlich würde er es nicht soweit kommen lassen. Denn mochte sich auch sein eigenes Leben dem Ende entgegenneigen, das seines Sohnes hatte gerade erst begonnen. Er hob den Arm, der den Säugling hielt, betrachtete stumm den winzigen Körper, der sich schwach im stählernen Griff seiner Finger wand – und den starken, schimmernden Strang, der wie ein Strom aus geschmolzenem Silber seiner Brust entsprang und seinen schmächtigen Leib mit der Quelle verband.
Einen Moment noch stand er reglos, schaute in die weit aufgerissenen Augen seines Sohnes, deren sanftes Frühlingsgrün vor Panik und Entsetzen zum stumpfen, toten Braun verwelkenden Herbstlaubs geronnen war, dann straffte er seine Gestalt. Es war Zeit, das Ritual zu vollenden.
Innerlich und äußerlich unbewegt schritt Ogaire auf das weiße Licht zu, das im Zentrum der Lichtung erstrahlte, trug den Säugling nun eine Armeslänge von sich fortgestreckt. Die Schreie des Kindes erstickten, als er es im leuchtenden Herz des Lebens versenkte.
Gleich darauf trat er selbst ins Licht. Seine Lippen begannen sich zu bewegen, die magischen Formeln zu rezitieren, die er in den langen dunklen Jahren seiner Studien eigens für diesen Augenblick ersonnen hatte. Seine Stimme hob und senkte sich, war im einen Moment hoch und schrill wie das triumphierende Kreischen einer Krähe, die mit ihrem Schnabel Fetzen blutigen Fleisches aus dem Kadaver eines verendeten Tieres herausriss, im nächsten tief und bedrohlich wie das hungrige Knurren eines Wolfs, dessen gefletschte Zähne nur noch eine Handbreit von der ungeschützten Kehle seiner Beute entfernt waren. Die Worte verloren ihre Konturen, wurden unverständlich, doch letztlich brauchte es keine Silben, um den Zauber zu wirken. Elfische Magie war allein eine Frage des Willens; Formeln, Beschwörungen und Worte dienten allein dazu, den Willen auf das gewünschte Ziel zu konzentrieren.
Sein Ziel war einfach und sein Wille war stark, stärker als die verschreckte, ängstliche Seele des Hains. Ogaire spürte sogleich, wie sie sich ihm beugte. In kaltem Triumph riss er den Lebensstrang vom Körper seines Sohnes und verband ihn mit seinem eigenen.
Die beiden Stränge flossen ineinander, verschmolzen zu einem breiten, machtvollen Strom, zu einer dicken, pulsierenden Arterie aus Licht, so strahlend und hell, als sei die Sonne selbst durch die stählerne Kraft seines Willens vom Himmel herabgezwungen und in eine neue Form gegossen worden. Gleichzeitig spürte er, wie frisches Leben berauschend wie süßer Wein in ihn schoss – Leben, das eigentlich seinem Sohn gehört hatte.
Ogaire ließ den Säugling los. Das Kind atmete längst nicht mehr. Ohne das helle Band, das es mit dem Herzen des Hains verband, war es in Sekundenbruchteilen gestorben, nun verwelkte der leblose Körper wie eine Blume in der Wüstensonne, wurde schwarz, zerfiel zu einem Häufchen flockiger Asche, die lautlos zu Boden rieselte.
Das Herz des Waldes zuckte wild, als sich die Asche gestohlenen Lebens wie Gift in das reine Licht des Ursprungs ätzte. Ein vielstimmiger Schrei erhob sich über den Hain. Sylphen, Dryaden, Blütenfeen, selbst die Elfen krümmten sich hilflos unter dem Ansturm animalischer Pein, und für einen Moment flackerte das Leben selbst so schwächlich wie eine Kerze, die auf einem einsamen Grabhügel dem eisigen Nordwind zu trotzen versucht.
Auf diesen Augenblick hatte Ogaire gewartet. Erneut fokussierte er seinen Willen, und ein weiterer Zauber, anders als der erste und doch ebenso machtvoll, begann sich um seine hochaufgerichtete Gestalt zu entfalten. Er spürte, wie er über sein Gesicht, über seine Arme und Beine rann, ihn umhüllte wie eine schützende Haut, während ringsumher die Bewohner des Waldes noch immer vor Schmerz und Entsetzen zuckten, ein jeder von ihnen dem Tode nahe.
Doch er wollte sie nicht töten – noch nicht. Das hätte seinem Ziel eher geschadet als gedient. Allein deshalb gestattete er ihnen weiterzuleben.
Mit einer beiläufigen Bewegung fegte er die Asche aus dem Licht. Wie Sonnenschein, der plötzlich hinter einer schwarzen Wolke hervorbricht, verstärkte sich das weiße Glühen, das durch den grausamen Mord matt und stumpf geworden war, versuchte verzweifelt, das Gift fortzuspülen und die Wunde zu schließen, die er ins lebendige Gewebe des Waldes gerissen hatte. Ogaire wusste, dass der Kampf vergeblich sein würde.
Das Herz des Waldes war zu rein, zu makellos und unverdorben, um eine derartige Schändung anders als mit innerer Erstarrung und ohnmächtigem Leiden beantworten zu können. Die Fäulnis, die sein obszönes Ritual hinterlassen hatte, würde weiterwuchern, wie eine stinkende Kloake durch die silbernen Nabelschnüre sickern und ein Leichentuch aus Tod und Verwesung über den Hain breiten – ein Leichentuch, das mit jedem Jahr, das verstrich, dicker und schwerer werden würde, bis auch der letzte Funke Leben, der noch in den verdorrten Leibern glomm, zu grauer Asche geworden war.
Der pumpende Herzschlag der Quelle selbst würde dafür sorgen, dass der Keim der Verdammnis zu jedem Baum und jedem Strauch, zu jeder Dryade, Blütenfee und jedem Elfen getragen wurde. Die Dunkelheit würde ihre Seelen verschlingen, Stück für Stück, würde die Flamme des Lebens in ihnen ersticken, lange bevor sie tatsächlich gestorben waren, und der einst so strahlende Hain würde zu einem kalten, düsteren Ort werden, einem Ort der Trauer und der Bitterkeit, wo Gesang und Tanz nur noch Gespenster in den staubigen Hallen der Erinnerung sein würden und die Gräber der Toten anklagend zu einem grauen, gleichgültigen Himmel emporstarrten.
Ogaire konnte sehen, wie es begann. Schon wurde das Licht der Quelle wieder schwächer, verwandelte sich trotziges Aufbegehren in Resignation und Hoffnungslosigkeit, als die Kräfte der Natur hilflos vor der Saat des Bösen kapitulierten. Graue Schlieren mischten sich in das strahlende Weiß, Wirbel aus Fäulnis und Verwesung, die dem Elfenhain auf ewig sein düsteres Mal aufdrücken würden.
Mit einem letzten zufriedenen Blick auf die Abscheulichkeit, die er geschaffen hatte, trat Ogaire aus dem Licht auf die Lichtung hinaus. Gleichmütig betrachtete er die schwarze, verkohlte Fläche, die noch vor wenigen Augenblicken eine blühende Wiese gewesen war. Die Obszönität seiner Schändung war wie Eiter aus dem gequälten Herzen des Waldes hervorgebrochen, eine giftige, kochende Brühe, die jeden Grashalm und jede Blume, jeden Strauch und jeden Baum im Umkreis von mehreren hundert Metern zu rauchender Schlacke und bizarren, wie verkrümmte Skelettfinger aus der Erde ragenden Schattengebilden zusammengeschmolzen hatte, zu schwarzen, verkrüppelten Zerrbildern ihrer einstigen Schönheit, aus denen jegliches Leben für immer gewichen war.
Ogaire verschwendete keinen Gedanken daran. Unsichtbar und unantastbar für die anderen Elfen, die in ohnmächtigem Zorn und fassungsloser Wut nach ihm suchten, ohne auch nur ansatzweise die wahre Dimension dessen zu ahnen, was er getan hatte, zog er sich zurück. Nur wenig später passierte er die Grenze des Hains und betrat die Welt der Menschen.

1. Kapitel

Luft! Warum gab es in diesem ganzen verdammten Gebäude nur so wenig Luft? Verzweifelt zerrte Andion am Kragen seines T-Shirts, aber es nützte nichts. Obwohl die Schrecken des heutigen Tages gerade erst begonnen hatten, schien der sadistische Folterknecht, der die Geschicke seines jämmerlichen Lebens lenkte, bereits zu so früher Stunde zu Höchstform aufzulaufen. Trotz der stickigen Hitze im Klassenzimmer stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn, und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie in einen unsichtbaren Schraubstock eingespannt, der mit jedem Ticken der billigen Plastikuhr, die wie ein höhnisch glotzendes Auge über der geschlossenen Tür seines Gefängnisses hing, eine Umdrehung weiter zusammengedrückt wurde.
Die Hände unter der zerschrammten Tischplatte zu Fäusten geballt, den würgenden Geschmack naher Panik im Mund, flog sein gehetzter Blick durch den Raum, doch weder die dicken, steinernen Mauern des alten Schulgebäudes mit ihren blinden, staubigen Fenstern noch die viel zu niedrige Decke, die mit dem Gewicht eines Gebirgsmassivs auf ihm lastete, versprachen einen Ausweg aus seiner Qual.
In ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Er saß hier mit 20 anderen Schülern – und einem fetten Choleriker, der sich selbst hochtrabend Lehrer schimpfte – im gleichen Raum, und doch war er offenbar der Einzige, der das Bedürfnis verspürte, schreiend von seinem Platz aufzuspringen und mit seinen bloßen Händen die grauenhaften Wände niederzureißen, die die Luft und das Licht von ihm fernhielten und langsam das Leben aus ihm herausquetschten wie aus einer Blume, die von einem gleichgültigen Kind gepflückt und zum Trocknen zwischen zwei Betonplatten gelegt worden war. Fast glaubte er zu spüren, wie die Mauern immer dichter zusammenrückten, wie sich die Decke tiefer und tiefer auf ihn herabsenkte, ein hungriges Raubtier, das darauf lauerte, seine wehrlose Beute in einem unachtsamen Augenblick zwischen seinen tödlichen Kiefern zermalmen zu können. Doch natürlich war das eine Illusion. Andion wusste, dass der Tod, wenn er ihm irgendwann einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat, weit weniger gnädig mit ihm sein würde.
Er bohrte sich seine Fingernägel ins Fleisch, bis seine Handflächen schmerzhaft zu pochen begannen. Langsam, fast wie eine düstere Meditation, ließ er seinen Blick über seine Mitschüler wandern, betrachtete stumm ihre teils gelangweilten, teils interessierten Gesichter, während sie dem monotonen Vortrag Mr. Colegraves lauschten. Wieder einmal wurde er sich schmerzlich des Abgrundes bewusst, der zwischen ihm und ihnen klaffte – eines Abgrundes, wie er tiefer und unüberwindbarer gar nicht sein konnte. Längst hatte er es aufgegeben, sich diesbezüglich etwas anderes einreden zu wollen. Er war nicht wie sie, und er würde es niemals sein. Dazu war es nicht einmal nötig, dass sie irgendetwas Bestimmtes taten, ihm durch ihr konkretes Handeln das Gefühl gaben, dass er niemals mehr als ein Fremder unter ihnen sein würde. Er fühlte, dass es so war. Die Empfindungen, die sie bewegten, lagen so offen vor ihm, waren sogar mit geschlossenen Augen so deutlich zu spüren, dass jeder Versuch einer Selbsttäuschung sogleich zu einer lächerlichen Farce verkam, zu einer Lüge, an die zu glauben ihn auch noch den letzten armseligen Rest seiner Würde gekostet hätte, die ihm nach all den Jahren des Leidens noch geblieben war.
Er grub seine Fingernägel noch tiefer in sein Fleisch, und seine Zähne mahlten knirschend aufeinander, hielten den verzweifelten Schrei zurück, der aus seinem Inneren hervorbrechen wollte. Zitternd schloss er die Augen, versuchte die würgende Übelkeit niederzudrücken, die seinen Magen zusammenkrampfte, während die Welt im Rhythmus seines hämmernden Herzschlags um ihn zu schwanken begann und sich seine Kehle immer mehr anfühlte, als habe ihm jemand einen Eimer mit Sand in den Rachen gekippt, der langsam in seine Lungen hinabrieselte und ihm unerbittlich die Luft abschnürte. Schon spürte er die dunklen Schwingen der Ohnmacht, die zärtlich über seinen Geist strichen, ihn forttragen wollten von diesem schrecklichen Ort, der nichts als Qual und Einsamkeit für ihn bereithielt. Doch er durfte ihrem Ruf nicht folgen, sich der lockenden Dunkelheit nicht ergeben. Würde er wieder einmal wie ein nasser Sack Mehl von seinem Stuhl rutschen, würde sich das Füllhorn höhnischen Spotts, das seine Klassenkameraden jeden Tag aufs Neue mit den erlesensten Kostbarkeiten aus dem unerschöpflichen Vorrat ihrer Giftküche füllten, zweifelsohne auf der Stelle über ihn ergießen, und ihm stand so früh am Morgen noch nicht der Sinn danach, seine schutzlose Kehle den Wölfen darzubieten. Er musste durchhalten! Bald würde der Pausengong das Ende des Martyriums verkünden, und er konnte ...
„McKay! Wünschen Eure Lordschaft vor dem Zubettgehen noch ein Tässchen heiße Milch mit Honig, oder seid Ihr bereits in die süßen Gefilde des Schlafs entschlummert?“
Erschrocken riss Andion die Augen auf. Die kolossale Gestalt Mr. Colegraves ragte wie ein Berg vor ihm in die Höhe – ein Berg mit tückischen kleinen Augen, die boshaft auf ihn herabstarrten, und einem erwartungsvollen Haifischgrinsen auf den wulstigen Lippen.
Andion hatte nicht bemerkt, wie der Lehrer nähergekommen war, hatte nicht die Bugwelle aus kalter Wut und hämischer Vorfreude gespürt, die sich durch die emotionsgeschwängerte Luft auf ihn zubewegt hatte.
Nun war geschehen, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Mr. Colegrave hatte ihn am Haken, und er würde ihn so lange zappeln lassen, bis er ihn mit dem Gesicht nach unten in den Staub getreten hatte. Der fette Geschichtslehrer war niemand, den man sich leichtfertig zum Feind machte – aber aller guten Vorsätze zum Trotz hatte Andion das in nur wenigen Stunden fertiggebracht.
Scharfkantige Splitter aus zerbrochenen Träumen, aus Bitterkeit und Enttäuschung und dem boshaften Wunsch, andere Menschen für die ihm zugefügten Schmerzen bluten zu lassen, prasselten wie ein Regen aus Eiskristallen auf ihn nieder, als sich der Geschichtslehrer mit seinen baumstammdicken Armen auf seine Tischplatte stützte und sich mit einem verächtlichen Grinsen zu ihm herabbeugte.
„Ich bitte um Vergebung, Mylord, sollten die groben Worte des Pöbels Euer zartes Gemüt in ungebührlichen Aufruhr versetzt haben.“ Mr. Colegraves Stimme troff vor Hohn. „Wer bin ich, Euer göttliches Genie in Frage stellen und dem gewaltigen Schatz Eures Wissens meine eigenen armseligen Kupferstücke hinzufügen zu wollen?“ In einer absurden Parodie demütiger Zerknirschung neigte der Geschichtslehrer seinen massigen Schädel.
Schadenfrohes Gekicher erhob sich um ihn herum. Andion knirschte mit den Zähnen. Den Blick starr auf das Blatt Papier gerichtet, das vor ihm auf dem Tisch lag, presste er ein mühsames „Es tut mir leid, Sir“ hervor, wohl wissend, dass nichts von dem, was er sagte oder tat, Mr. Colegrave davon abhalten würde, ihn vor der versammelten Klasse zu Wurstgulasch zu verarbeiten.
Doch obwohl alles in ihm danach schrie, aufzuspringen, aus dem nächsten Fenster zu hechten und so lange zu rennen, bis er mindestens tausend Meilen zwischen sich und die düstere Wolke aus Herablassung und Wut gebracht hatte, die bedrohlich und kalt vor ihm in die Höhe ragte, blieb er wie versteinert auf seinem Stuhl sitzen, starrte auf seine Tischplatte und presste stumm die Lippen aufeinander. Mr. Colegrave jetzt auch noch anzusehen, wäre keine gute Idee. Auch dies war eine Lektion, die er bereits früh in seinem Leben hatte lernen müssen.
Andion spürte, wie sich die Gefühle des Geschichtslehrers veränderten, wie er sich bereit machte, die bizarre Scharade zu beenden, und zum Schlag ausholte. „Glaubst du etwa, das hier wäre ein Spiel, McKay?“ zischte er. Er hatte sich noch tiefer zu ihm heruntergebeugt, schien wieder einmal die Unterwerfung seines Gegners mit der schieren Masse seines gewaltigen Körpers herbeizwingen zu wollen. „Glaubst du im Ernst, ich lasse mich von dir für dumm verkaufen?“
Die Wolke aus Zorn wurde heiß, brannte wie kochender Teer auf seiner Haut. Andion schluckte. Der Geschichtslehrer war zweifellos in noch üblerer Stimmung als sonst, und er schien entschlossen, ihn dafür büßen zu lassen.
„Aber vielleicht ist dir ja die Bedeutung des Wortes Schule entgangen. Schule ist nicht der Ort, an dem man nach einer durchzechten Nacht seinen Rausch ausschläft. Und es ist nicht der Strand von Malibu, wo halb nackte Blondinen in ihren Bikinis vor dir herumhüpfen und du dich an deinen feuchten Träumen delektierst!“
Dornen aus schwarzem Feuer bohrten sich in sein Fleisch, sengten eine Spur aus kochender Dunkelheit in seinen Geist. Verzweifelt rang Andion nach Luft.
Mr. Colegrave fixierte ihn mit dem kalten Blick einer Schlange, die wusste, dass ihre Beute unwiderruflich in der Falle saß und nichts mehr tun konnte, um den zustoßenden Giftzähnen noch zu entkommen. „Aber niemand soll behaupten, ich hätte kein Herz für die Einfältigen und Verwirrten. Heute ist dein Glückstag, McKay! Ich werde deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.“ Andion spürte, wie sich die Lippen des Lehrers erneut zu seinem widerwärtigen Haifischgrinsen verzogen. „Also, bis zur nächsten Stunde will ich 20 Seiten von dir sehen, 20 Seiten über die Bedeutung des Götterpantheons für das soziale Leben der griechischen und römischen Gesellschaft. Natürlich wirst du aus Respekt vor dem kulturellen Erbe unserer Vorfahren auch diesmal den dekadenten Verlockungen der modernen Technik widerstehen und wie jedes vernunftbegabte Lebewesen in den letzten 5000 Jahren für deine historische Expertise ein schnödes Blatt Papier und einen Stift benutzen. Und da wir gerade dabei sind, du hast mir deine letzte Ausarbeitung noch nicht gezeigt!“
Auch eine Strafarbeit, ebenfalls über das Thema Mythologie. Darum drehte sich zurzeit alles in Mr. Colegraves Unterricht. Tragischerweise war gerade das eine Leidenschaft, die Andion mit dem Geschichtslehrer teilte, und hätte der Unterricht draußen auf dem sonnengewärmten Rasen statt im Betonsarg des alternden Schulgebäudes stattgefunden, hätte er Mr. Colegrave bewiesen, dass er tatsächlich Freude am Lernen hatte.
Hastig kramte er die zehn eng beschriebenen Seiten aus seiner Tasche hervor und schob sie in Richtung des hasserfüllten Brodems, der lauernd wie ein hungriger Schakal vor ihm in der Luft schwebte. Noch immer hielt er seinen Blick gesenkt, wagte nicht aufzusehen.
Sein Aufsatz wurde ihm aus den Händen gerissen, dann herrschte einige Sekunden lang bedrohliche Stille. Andion erkannte an der boshaften Genugtuung, die plötzlich von dem Lehrer ausstrahlte, dass dieser sofort mit der Lektüre begonnen haben musste – natürlich, schließlich würde er sich eine derart vortreffliche Gelegenheit, ihn zu demütigen, keinesfalls entgehen lassen.
Er spürte, wie seine Handflächen vor Nervosität feucht wurden. Vielleicht hätte er doch lieber etwas aus einem Buch abschreiben sollen, aber dazu hätte er zuerst in die Bücherei gehen und dort nach passendem Material suchen müssen, denn Bücher waren leider so ziemlich das Letzte, was in den Schränken ihrer kleinen Wohnung zu finden war. Auch dies war etwas, das er schon seit vielen Jahren zu akzeptieren gelernt hatte. Es war gefährlich, zu sehr an den Dingen zu hängen. Ein Moment der Unentschlossenheit, ein Augenblick des Zögerns bei der Entscheidung, was zurückgelassen oder besser mit ein paar hastigen Handgriffen in eine ihrer Reisetaschen gestopft werden sollte, mochte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, wenn sie das nächste Mal ihr Versteck wechseln mussten.
Blieb also nur die Bibliothek. Die aber lag in einem der modernsten Gebäude der Stadt – einem gewaltigen Koloss aus Stahl und Glas, der ihm schon beim bloßen Anblick die Luft knapp werden ließ. Dort hineinzugehen wäre ebenso selbstzerstörerisch gewesen, wie von einer zehn Meter hohen Brücke zu springen – wobei er die Brücke jederzeit vorgezogen hätte.
Also hatte er stattdessen aus einer anderen Quelle geschöpft – aus dem unendlichen Fundus an Geschichten, die sein Vormund Ian ihm erzählt hatte, damals, in den dunklen, einsamen Stunden seiner Kindheit, als das zunehmende Wissen um den Schrecken, der über seinem Leben schwebte, seine kleine Seele in Furcht und Entsetzen zu ersticken drohte und er Nacht für Nacht zitternd in seinem Bettchen gelegen hatte, voller Angst, der Schatten aus seinen Albträumen habe sich mit seinen Klauen einen Weg in die Wirklichkeit gegraben, um in einem Moment der Unachtsamkeit über ihn herzufallen, zu packen und zu sich in sein kaltes, finsteres Reich hinabzuzerren.
Ians Geschichten waren das Licht gewesen, das ihm Wärme und Geborgenheit gegeben hatte, mehr noch als die Gegenwart seiner Mutter, sogar mehr als das Flüstern des Windes in den Bäumen und der Anblick der ersten Frühlingsblumen nach der eisigen Umklammerung des Winters. Plötzlich schlug ihm das Herz bis zum Hals, und er hatte das Gefühl, einen kostbaren Diamanten in die schmierigen Hände eines Leichenfledderers gelegt zu haben.
Schon hörte er, wie Mr. Colegrave tief und theatralisch Atem holte und sich seine Mitschüler in lüsterner Erwartung auf ihren Plätzen vorbeugten, spürte er die hungrige Gier, die plötzlich wie eine Welle aus schnappenden Haifischkiefern durch den Klassenraum wogte.
„Gepriesen sei der Herr für die Gnade, die Er seinen armseligen Dienern am heutigen Tage hat zuteilwerden lassen“, rief Mr. Colegrave mit der salbungsvollen Stimme eines Herolds, der gerade den Aufmarsch der himmlischen Heerscharen verkündete. „Höret nun und neigt euer Haupt in Ehrfurcht. Das Genie spricht zu euch!“ Er räusperte sich noch einmal lautstark und raschelte bedeutungsvoll mit den Blättern der Strafarbeit in seinen fleischigen Händen.
„In früheren Zeiten waren sich die Menschen, anders als heute, der Gegenwart der Elfen, Sylphen und Blütenfeen durchaus bewusst, auch wenn sie sie nur selten zu Gesicht bekamen. Sie wussten, dass die Reiche der Menschen und die der Elfen und des Kleinen Volkes sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten berührten und überschnitten, so etwa zur Zeit der Wintersonnenwende, der Tagundnachtgleiche oder auch an jedem gewöhnlichen Tag im Zwielicht der Dämmerung. Zäune und Türrahmen waren Orte, an denen wundersame Begegnungen stattfanden, und manch einer fürchtete sie, trieben doch die Wesen des Kleinen Volkes oft ihren Schabernack mit den Menschen.
Anders als die Sylphen und Blütenfeen, die Kobolde und Gnome waren die Elfen von zu edler und aristokratischer Natur, um an derartig derben Späßen Gefallen zu finden. Sie achteten und respektierten ihre menschlichen Nachbarn, boten ihnen ihre Hilfe an, wo sie benötigt wurde, und lebten in stiller Harmonie mit jenen, deren Dasein um so vieles mühseliger und entbehrungsreicher war als das ihre und deren Lebensflamme bereits wieder erlosch, bevor die ihre noch richtig zu brennen begann. Mächtige Elfenfürsten schlossen heilige Bünde mit menschlichen Familien und gewährten Reichtum und Glück für Hingabe und Treue, und der Wind der Hoffnung und des Friedens wehte durch beide Welten.
Doch im Laufe der Zeit verlernten die Menschen, an Wunder zu glauben. Sie vergaßen den Zauber der Magie, errichteten Städte aus Stahl und Beton und drängten die Welten des Zwielichts zurück in den Schatten, zurück in die Dunkelheit des Vergessens und der Unwissenheit. Gewaltige Elfenhaine, die einst Kontinente überspannt hatten, schrumpften zu kleinen Inseln zusammen, und die Zahl der Elfen nahm immer mehr ab.
Mit ihnen verschwanden auch die Wesen des Kleinen Volkes und die Naturgeister. Einige gingen in den Elementen auf, andere flohen in die Elfenhaine und suchten dort Zuflucht vor einer Welt, in der sie keinen Platz mehr für sich finden konnten.“
Das Gelächter in der Klasse wurde so laut, dass Mr. Colegrave an dieser Stelle abbrach. Verächtlich warf er die Blätter vor Andion auf den Tisch.
„Was zum Teufel soll das sein, McKay? Falls du es bisher noch nicht bemerkt hast, das hier ist ein seriöser Geschichtsunterricht und keine Märchenstunde! Deine Aufgabe lautete, eine Ausarbeitung über den volkstümlichen Aberglauben des Mittelalters anzufertigen, nicht dir irgendeinen Blödsinn aus den Fingern zu saugen! Verstehst du das etwa unter einer sorgfältigen Recherche? Glaubst du, das da wäre Wissenschaft? Damit könntest du höchstens in Hogwarts Karriere machen, aber nicht in Amerika, und nicht in meinem Unterricht!“ Mit einer abfälligen Bewegung wischte er die Blätter vom Tisch. „Das ist Mist, McKay! Totaler Mist!“
Etwas in Andion verkrampfte sich. „Aber ...“
„Streite es nicht auch noch ab! Du bist hier nicht im Auenland, McKay! Wann begreifst du das endlich?“
Andion presste stumm die Lippen aufeinander. Nein, er war nicht im Auenland. Er war ein Wanderer im Schatten, irrte umher in der Dunkelheit Mordors, ohne Hoffnung, jemals das rettende Licht zu erreichen; ein Verdammter, gebunden von Ketten, die ein unbarmherziges Schicksal ihm aufgezwungen hatte, und verfolgt von den Gespenstern, die in den düsteren Abgründen seiner Erinnerung auf ihn lauerten. Aber das konnte und wollte er Mr. Colegrave ganz sicher nicht erklären. Dazu hätte er zu viel preisgeben müssen, was weder sein Lehrer noch seine Mitschüler jemals erfahren durften.
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