Einzelnen Beitrag anzeigen
  #2  
Alt 16.11.2009, 21:40
Benutzerbild von Bardin
Bardin Bardin ist offline
Geschichtenerzählerin
Erforscher der Welten
 
Registriert seit: 11.2009
Ort: wo die Träume flügge werden
Beiträge: 2.195
Vor 16 Jahren…

Ein Blitz durchzuckte die Nacht. Zwei Sekunden lang glühte die Welt in einem grellen Licht, dann wurde es wieder finster. Laut rollte der Donner über den Himmel und durch den Wald.
Aryuna zitterte und duckte sich unter einen Baum. In den Armen hielt sie ein Stoffbündel, das sie fest an sich presste. Es wimmerte leise.
Liebkosend hielt sie es an ihr Gesicht.
„Ihr Götter, verzeiht mir“, hauchte die junge Frau flehend.
Ein weiterer Blitz zerriss den Himmel.
„Verzeiht mir…“
Doch im Herzen Aryunas erklangen nicht die Namen der Götter…
Laomy… Laomy, verzeih mir!
Sie fror in ihren durchnässten Kleidern, doch nun hastete sie weiter durch den strömenden Regen. Ein Stein brachte sie zum Stolpern. Unbeirrt rappelte sie sich auf und lief noch schneller. Das Wasser, das von ihren Kleidern hinuntertropfte, färbte den Boden rot. Rot wie Blut.
Laomy!
Eine Träne rollte ihre Wange hinunter und wurde vom Regen augenblicklich fortgespült. Sie drückte ihr Kind noch fester.
Sie stolperte über einen Ast und fiel hin. Hilflos versuchte sie, das gerade erst begonnene Leben in ihren Armen zu schützen. Das Wimmern wurde zu einem Schluchzen.
Aryuna kniete nun auf dem Boden, ihr Kind, das letzte, was ihr auf der Welt geblieben war, so fest an sich gepresst, dass keine Macht der Welt sie hätte trennen können
Aus ihrer Brust rann dunkles Blut.
Sie riss ihre Augen von dem Anblick los und sah sich um.
Wohin?
Es gab hier nichts als Wald. Doch irgendwo in der Ferne… ein Leuchten.
Abermals stand sie auf und rannte weiter.
Verzeih mir!
Im nächsten Blitz erkannte sie eine kleine Häuseransammlung, die sich in die Nische unter einem großen Felsen duckte. Ihr Atem wurde heftiger.
Gehetzt sah sie sich um. Die Fensterläden waren geschlossen. Es war so düster wie überall sonst im Wald.
Natürlich nicht…
Sie keuchte auf. Ein größerer Schwall Blut floss an ihr herunter.
Halb blind vor Schmerz versuchte sie noch etwas zu erkennen, und legte ihr Kind vor einer der Türen ab. Liebevoll wickelte sie es enger in das nasse, blutdurchtränkte Tuch und versuchte es vor weiterem Regen zu bewahren. Ein weiterer Schwächeanfall brachte sie fast zum Stürzen, doch sie gab nicht auf.
Weinend nahm sie Abschied. Dann hielt sie nichts mehr an diesem Ort.
Befreit von ihrer Last rannte sie durch den Wald, über Stock und Stein, und hinterließ eine langsam verebbende rote Spur…
Sie brach zusammen.
Und irgendwo in den Tiefen ihrer Seele ertönte zum allerletzten Mal noch ein Name:
k’Chonaton… warum habe ich dir nur geglaubt…

~ * ~

„Tot?!“
„Ermordet.“
Der alte Mann runzelte unter der weißen Kapuze die Stirn.
„Wie konnte das passieren? Außer uns wusste niemand von ihr!“
Er blickte fragend in die Runde der weiß gekleideten Gestalten, die betroffen den Kopf senkten.
Sie hatten sich um Aryunas Leichnam gruppiert, der verkrümmt unter einem Baum lag. Die tote Frau hatte die Augen geschlossen, ihr braunes Haar floss über die Wurzeln des Baumes und ihr Gesicht flehte die umstehenden Wächter stumm an.
„Anscheinend doch“, ertönte nun unter einem weiteren weißen Umhang die Stimme einer jungen Frau.
„Oder aber… jemand von uns.“
Schlagartig wurde es so still, dass man nur noch das Rauschen der Bäume in der Ferne hören konnte. Alle Augenpaare ruhten auf dem groß gewachsenen, alten Mann.
„Es stimmt doch“, setzte er nun fort, „Niemand wusste von ihr. Menschen wie sie sind nicht gesellig. Und was für einen Grund sollte ihre Ermordung schon haben?“
„Worauf wollt Ihr hinaus?!“, rief jemand empört.
„Dass jemand sie loswerden wollte.“ Er spuckte die Worte fast aus. „Wusste sie zuviel?“
„Zuviel von was?“, fragte ein anderer.
Der Blick des Mannes wurde auf einmal unschuldig. Verdächtig unschuldig.
„Ich weiß nicht. Woher sollte ich auch?“
Die Gestalten hatten einen Kreis um ihn gebildet. Nun traten sie näher.
„Es sind gefährliche Worte die Ihr da sprecht, l’Fehan“, erklärte einer.
„Ich weiß. Aber irgendjemand muss sie doch aussprechen, nicht wahr?“
„Er war es nicht.“ Der Stimme nach ein junger Mann.
Aus dem Kreis der weißen Gestalten trat eine Frau heraus und stellte sich schützend zu l’Fehan.
„Woher wisst Ihr dann wen er meint?“, fragte sie.
„Weil ihr schon lange so von ihm redet. Zu lange.“
Mit geschmeidigen Schritten ging sie auf den Sprecher der Worte zu.
„Vielleicht“, zischte sie, „haben wir auch einen Grund!“
„Habt ihr immer noch nicht genug davon?!“
„k’Chonaton ist unschuldig!“, rief ein anderer aus der Menge.
„Er ist nicht hier. Wo dann?“, übernahm wieder l’Fehan das Wort.
„Ich? Ich bin hier.“
Abermals schwieg die Gemeinschaft und machte Platz für ein weiteres Mitglied, das nun die Lichtung betrat. Selbstgefällig lächelnd ging der Mann in die Mitte des Kreises, streifte seine Kapuze ab und schüttele kurz seine halblangen, schwarzen Haare.
„Warum redet ihr von mir?“
L’Fehan, der sich zuvor noch beschwert hatte, sah ihn an, als würde er gleich auf ihn losgehen. Beschwichtigend legte ihm die Frau ihre Hand auf die Schulter.
„Lass es“, flüsterte sie kaum hörbar.
Doch es war zu viel.
„Was habt Ihr mir Aryuna gemacht?“
„Was hätte ich mit ihr tun sollen?“
K’Chonaton zögerte kurz, streifte dann jedoch auch den weißen Umhang ab, warf ihn achtlos neben sich und trat nah an l’Fehan heran.
„Ich habe ihr nichts getan. Bei den Göttern schwöre ich das!“
Er atmete schwer vor Wut. Als er den Mund wieder öffnete, war seine Stimme etwas ruhiger, bekam aber einen gefährlichen Unterton.
„Es reicht mir. Eure Anschuldigungen kann ich nicht mehr ertragen.“ Nun nahm er auch die Kette mit der einzelnen Perle ab, die um seinen Hals hing, und warf sie zu Boden.
Die kurze Stille war unerträglich.
„Ich trete aus.“
Stille.
„Das könnt ihr nicht machen!“
„Warum nicht? Wurde ich auf lebenslang verpflichtet? Hier hält mich nichts mehr.“
„Und Laomy…?“, warf ein anderer ein.
„Ich vertraue auf euch.“
Der spöttische Unterton war kaum zu hören. Unter seinem Umhang ballte l’Fehan die Hände, als k’Chonaton sich gelassen umdrehte und die Versammlung wieder verließ.
„Er war es“, flüsterte er, „Ich weiß, dass er es war!“
„Er hat sie geliebt“, sagte die Frau neben ihm.
„Ich weiß. Aber für ihn zählt das nicht.“
„Ihr solltet endlich damit aufhören“, mischte sich ein Mann ein, dessen eisblaue Augen unter dem Schatten der Kapuze hervor blitzten, „Ihr schadet euch doch nur selbst.“
„Du glaubst ihm“, entgegnete l’Fehan vorwurfsvoll.
„Er hat wegen euch beiden die Wächter verlassen!“
„Er hätte es auch so getan.“
Zwischen ihren Augen fand ein unsichtbares Kräftemessen statt. Schließlich blickten beide zu Boden. Die Frau sah fast flehentlich zwischen den beiden hin und her.
Sie setzte zum Sprechen an, doch ein Husten hinter ihnen unterbrach das Gespräch und sie drehten sich um.
„Ihr wisst, dass das Konsequenzen haben wird“, erklärte ein Mann, dessen hohes Alter trotz der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze deutlich zu spüren war. Der Angesprochene senkte betroffen die Augen.
„Ich bin mir sicher, dass ich die Wahrheit sage.“
„Das seid nur Ihr und Eure Frau. Ihr habt noch keine Beweise bringen können.“
„Natürlich nicht“, entgegnete die Frau vorwurfsvoll, „Zwei Menschen alleine können das nicht. Ihr lasst uns keine Möglichkeit.“
„Wie dem auch sei, die Ermordung Aryunas, wie unbekannt sie den meisten auch gewesen sein mag, wird nach außen dringen. Ich bin mir sicher, das Gericht wird sich dem annehmen.“
„Das Gericht?! Und was ist mit den Wächtern?“
„Die Wächter müssen nicht zwingend in diesen Sachverhalt als Wächter verwickelt sein.“
„Nicht zwingend“, entgegnete l’Fehan, „aber vielleicht eben doch. Und wenn dem so ist – dann kann das Gericht nicht das richtige Urteil treffen.“
„Ihr habt Angst?“
L’Fehan brauchte eine Weile, bis er begriff.
„Ich war es nicht!“ erklärte er mit etwas zu lauter Stimme. Dann riss er sich wieder zusammen: „Aber ja – ich habe Angst.“
Die Blicke des Ältesten blieben hart.
„Das Gericht wird das Urteil fällen.“
Und mit diesen Worten verließ er die Lichtung.
Die drei sahen ihm hinterher.
„Hilfst du uns?“, wandte sich die Frau an den anderen Mann.
Der Mann mit den blauen Augen starrte sie eine zeitlang an und sagte dann: „Nein. Ich werde aussagen was ich weiß, und das mag für oder gegen euch sprechen.“
„Du glaubst ihm wie alle anderen…“ Die Stimme von der Frau hatte jede Hoffnung verloren.
„Ich glaube das, was man mir beweisen kann.“
„Dann wird er siegen… und wir untergehen…“
__________________
Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

Die Bardin auf deviantArt: http://the-bardess.deviantart.com/

Geändert von Bardin (22.11.2009 um 10:14 Uhr)
Mit Zitat antworten