Thema: Leseproben
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Alt 26.10.2013, 12:56
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Susanne Gavenis Susanne Gavenis ist offline
Herausforderer der Weisen
 
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Anlässlich der Veröffentlichung meines neuen Fantasy-Romans "Wächter des Elfenhains" möchte ich an dieser Stelle wieder eine kleine Leseprobe vorstellen. Es handelt sich dabei um den Prolog und einen Teil des ersten Kapitels, ist also, anders als die Leseprobe zum Gambler-Zyklus, tatsächlich der Beginn des Romans. Auch wenn das Buch schon erschienen ist, freue ich mich trotzdem wie immer auf Rückmeldungen!

Prolog

Die Sylphen und Dryaden des Waldes stoben in Panik auseinander, als Ogaire an’Tairdym, einer düsteren Naturgewalt gleich, an ihnen vorüberzog. Wohin auch immer er seine Schritte lenkte, verstummten Gesang und Gelächter, erstarrten die anmutigen Tänze der Wind- und Baumgeister in jähem Entsetzen, verzerrten Grauen und Furcht ihre zarten, im goldenen Licht der Sonne strahlenden Gesichter.
Nur einen Wimpernschlag später waren sie fort, wurden eins mit den mächtigen Stämmen der Bäume, ihrem dichten grünen Blattwerk und den knorrigen Wurzeln; jene, die nicht wie die Dryaden die Fähigkeit besaßen, in der Verschmelzung mit den majestätischen Eichen, Buchen und Kiefern des Elfenhains Schutz und Sicherheit zu finden, jagten in kopfloser Flucht davon oder kauerten sich mit ihren winzigen Körpern zitternd in den Schatten der Grashalme und Wiesenblumen, um deren leuchtende Blüten noch einen Moment zuvor dichte Wolken von Sylphen und Blütenfeen zur lautlosen Melodie des Windes ihre ätherischen Tänze in die warme Sommerluft gewoben hatten.
Ogaire spürte die Blicke ihrer aufgerissenen, schreckensstarren Augen, die ihn verfolgten, während er mit gleichgültiger Miene seinem Ziel entgegenschritt. Die Wesen des Kleinen Volkes schienen genau zu wissen, was er plante, waren zu sehr Teil der Natur und alles Lebendigen, um nicht die kalte Entschlossenheit wahrzunehmen, die ihn erfüllte und wie ein tödlicher Nebel von ihm ausstrahlte. Es kümmerte ihn nicht. Die Zeit der Entscheidung war gekommen. Keine Macht der Welt würde ihn jetzt noch aufhalten können.
Auch der Säugling hatte das begriffen. Ohne innezuhalten oder sein Tempo zu verlangsamen senkte Ogaire den Blick, betrachtete gleichmütig das wimmernde Bündel, das er achtlos wie einen alten Lumpen mit seiner rechten Hand gepackt hielt. Normalerweise schrien Elfenkinder nicht, wurden sie doch mit wachem Geist geboren, dieses hier aber schrie so durchdringend, als stecke ein Messer in seinem kleinen Leib.
Seine winzigen Händchen waren zu Fäusten geballt, als versuche es mit all der armseligen ihm zur Verfügung stehenden Kraft, sich aus der stählernen Umklammerung zu befreien, und in seinen großen Babyaugen flackerte nackte Angst. Obwohl es eben erst geboren worden war, konnte es natürlich wie jeder Elf die Gefühle und Absichten eines anderen erspüren, und Ogaire machte sich nicht die Mühe, die seinen vor ihm zu verbergen, ebenso wenig wie er es für wert erachtet hatte, seinem Sohn nach alter Elfentradition bei dessen erstem Blick in die Augen des Vaters einen Namen zu geben. Er würde ohnehin keine Gelegenheit haben, ihn zu tragen.
Die Mutter war bereits tot. Kurz vor der natürlichen Geburt hatte er das Kind aus ihrem Leib geschnitten, danach sofort mit seinem Dolch ihr Herz durchbohrt – der erste unabdingbare Teil des magischen Rituals, auf dessen Durchführung er seit Jahrhunderten hingearbeitet hatte.
Bald schon würde er es weiterführen, im Herzen des Hains, dort, wo die Lebenskraft noch mit ungebrochener Reinheit und Stärke pulsierte. Es war nicht mehr weit.
Die qualvollen Schreie des Säuglings waren die einzigen Laute, die ihn nun noch begleiteten. Die Natur selbst schien furchtsam vor seiner Gegenwart zurückzuweichen, das Gras unter seinen Stiefeln allein durch seine Berührung schlaff und leblos zu werden. Die Zweige der Büsche und Sträucher erbebten wie verwundete Tiere, als er sich rücksichtslos seinen Weg durch das Unterholz bahnte, und überall um ihn herum schlossen sich die Blüten der Waldblumen wie die Augen von Sterbenden, krümmten sich die Blütenfeen im Inneren der Kelche hilflos unter dem Ansturm der Qual, die in eisigen Wellen über sie hinwegrollte.
Schatten jagten wie entfesselte Dämonen über den sonst so lichten Hain, und das leuchtende, vitale Grün der Bäume und Gräser verwandelte sich mehr und mehr in ein stumpfes, düsteres Grau, als schwarze Wolken mit rasender Geschwindigkeit am vormals blauen Himmel aufquollen – weithin sichtbares Zeichen des ohnmächtigen Entsetzens der Wind- und Wettergeister.
Ogaire hatte keinen Blick dafür übrig. Er spürte die Nähe des Herzens, lange bevor er es tatsächlich sah, spürte den lautlosen Pulsschlag des Lebens, der wie der Atem eines Gottes durch die unbewegte Luft strich, die nun, da sich die Sylphen ängstlich in den Wolken verkrochen, schwül und stickig geworden war. Seine Augen, die nach den langen Jahrhunderten, die er auf den beinahe vergessenen und furchtsam gemiedenen Pfaden dunkler elfischer Magie zugebracht hatte, mehr zu sehen vermochten als die eines jeden anderen Elfen, durchdrangen mühelos das unheimliche Zwielicht der vorzeitig hereingebrochenen Nacht, und als er schließlich die letzten Bäume hinter sich zurückließ und auf die weite, grasbewachsene Lichtung hinaustrat, sah er, was kein anderer vor ihm jemals erblickt hatte.
Das Herz des Waldes – seine Lebenskraft – lag offen vor ihm. Seine schwarzmagisch veränderten Sinne zerrissen den Schleier, zerrten hervor, was seit Anbeginn der Zeit im Ursprung des Seins verborgen gewesen war, und einen Moment lang stand er reglos da, betrachtete mit unbewegter Miene das Mysterium, das nun, nach all den mühsamen Jahren des Forschens und Suchens, endlich zum Greifen nahe war.
Ströme silbrigen Lichts flossen über die Lichtung, wogten lautlos und majestätisch wie ein Meer aus Mondstrahlen zwischen den uralten Eichen, Tannen und Erlen, die den Rand der Wiese säumten. Einige der leuchtenden Stränge waren dick wie der Arm eines Mannes, andere so zart und filigran, dass selbst der Flügelschlag einer Blütenfee zu genügen schien, um sie wie Kerzenrauch in einem Wintersturm auseinanderzuwehen.
Und doch spürte er selbst in ihnen die unbändige Kraft des Lebens, spürte die ungeheure Vitalität und Macht, die in ihrem Silberglanz verborgen lag und jeden Grashalm, jeden Baum und jedes Blatt auf der Lichtung in unwirkliche Helligkeit tauchte. Nun, da er seinen Sinnen gestattete zu sehen, fühlte er die prickelnde Energie, die zusammen mit dem Licht über seine Haut strich, sanft wie ein Frühlingsregen sein Gesicht benetzte und über seine Arme und Beine perlte.
Hätte er es nicht bereits gewusst, so hätte er spätestens jetzt keinen Zweifel mehr gehabt. Egal ob Blütenfee oder Elf, Dryade oder Regenwurm, hier war der Ort, an dem jegliche Unterschiede ihre Bedeutung verloren. Denn so verschiedenartig sie auch waren, sie alle wurden genährt von der Quelle, dem Zentrum des Lichts, das Ehrfurcht gebietend und erhaben wie ein vom Himmel herabgefallener Stern in der Mitte der Lichtung schwebte. Wie Arterien und Venen, die einem gewaltigen Herzen entsprangen, sprossen die silbrigen Stränge aus der weißglühenden Kugel hervor, Myriaden schimmernder, pulsierender Adern, Nabelschnüre aus Licht, die jedes Lebewesen, von der winzigsten, hirnlosesten Amöbe bis zu den feingeistigen, zartgliedrigen Elfen, vom unscheinbarsten Strauch bis zur mächtigsten Eiche, mit dem Ursprung allen Seins verbanden.
Auch zu ihm führte ein solcher Strang, doch wo die meisten anderen um ihn herum vor Energie und Vitalität schier zu bersten schienen, war der seine im Verlauf der Jahrhunderte dünner und dünner geworden, war kaum noch mehr als ein zerschlissener, ausgefranster Faden, der schon allzu bald reißen würde.
Aber natürlich würde er es nicht soweit kommen lassen. Denn mochte sich auch sein eigenes Leben dem Ende entgegenneigen, das seines Sohnes hatte gerade erst begonnen. Er hob den Arm, der den Säugling hielt, betrachtete stumm den winzigen Körper, der sich schwach im stählernen Griff seiner Finger wand – und den starken, schimmernden Strang, der wie ein Strom aus geschmolzenem Silber seiner Brust entsprang und seinen schmächtigen Leib mit der Quelle verband.
Einen Moment noch stand er reglos, schaute in die weit aufgerissenen Augen seines Sohnes, deren sanftes Frühlingsgrün vor Panik und Entsetzen zum stumpfen, toten Braun verwelkenden Herbstlaubs geronnen war, dann straffte er seine Gestalt. Es war Zeit, das Ritual zu vollenden.
Innerlich und äußerlich unbewegt schritt Ogaire auf das weiße Licht zu, das im Zentrum der Lichtung erstrahlte, trug den Säugling nun eine Armeslänge von sich fortgestreckt. Die Schreie des Kindes erstickten, als er es im leuchtenden Herz des Lebens versenkte.
Gleich darauf trat er selbst ins Licht. Seine Lippen begannen sich zu bewegen, die magischen Formeln zu rezitieren, die er in den langen dunklen Jahren seiner Studien eigens für diesen Augenblick ersonnen hatte. Seine Stimme hob und senkte sich, war im einen Moment hoch und schrill wie das triumphierende Kreischen einer Krähe, die mit ihrem Schnabel Fetzen blutigen Fleisches aus dem Kadaver eines verendeten Tieres herausriss, im nächsten tief und bedrohlich wie das hungrige Knurren eines Wolfs, dessen gefletschte Zähne nur noch eine Handbreit von der ungeschützten Kehle seiner Beute entfernt waren. Die Worte verloren ihre Konturen, wurden unverständlich, doch letztlich brauchte es keine Silben, um den Zauber zu wirken. Elfische Magie war allein eine Frage des Willens; Formeln, Beschwörungen und Worte dienten allein dazu, den Willen auf das gewünschte Ziel zu konzentrieren.
Sein Ziel war einfach und sein Wille war stark, stärker als die verschreckte, ängstliche Seele des Hains. Ogaire spürte sogleich, wie sie sich ihm beugte. In kaltem Triumph riss er den Lebensstrang vom Körper seines Sohnes und verband ihn mit seinem eigenen.
Die beiden Stränge flossen ineinander, verschmolzen zu einem breiten, machtvollen Strom, zu einer dicken, pulsierenden Arterie aus Licht, so strahlend und hell, als sei die Sonne selbst durch die stählerne Kraft seines Willens vom Himmel herabgezwungen und in eine neue Form gegossen worden. Gleichzeitig spürte er, wie frisches Leben berauschend wie süßer Wein in ihn schoss – Leben, das eigentlich seinem Sohn gehört hatte.
Ogaire ließ den Säugling los. Das Kind atmete längst nicht mehr. Ohne das helle Band, das es mit dem Herzen des Hains verband, war es in Sekundenbruchteilen gestorben, nun verwelkte der leblose Körper wie eine Blume in der Wüstensonne, wurde schwarz, zerfiel zu einem Häufchen flockiger Asche, die lautlos zu Boden rieselte.
Das Herz des Waldes zuckte wild, als sich die Asche gestohlenen Lebens wie Gift in das reine Licht des Ursprungs ätzte. Ein vielstimmiger Schrei erhob sich über den Hain. Sylphen, Dryaden, Blütenfeen, selbst die Elfen krümmten sich hilflos unter dem Ansturm animalischer Pein, und für einen Moment flackerte das Leben selbst so schwächlich wie eine Kerze, die auf einem einsamen Grabhügel dem eisigen Nordwind zu trotzen versucht.
Auf diesen Augenblick hatte Ogaire gewartet. Erneut fokussierte er seinen Willen, und ein weiterer Zauber, anders als der erste und doch ebenso machtvoll, begann sich um seine hochaufgerichtete Gestalt zu entfalten. Er spürte, wie er über sein Gesicht, über seine Arme und Beine rann, ihn umhüllte wie eine schützende Haut, während ringsumher die Bewohner des Waldes noch immer vor Schmerz und Entsetzen zuckten, ein jeder von ihnen dem Tode nahe.
Doch er wollte sie nicht töten – noch nicht. Das hätte seinem Ziel eher geschadet als gedient. Allein deshalb gestattete er ihnen weiterzuleben.
Mit einer beiläufigen Bewegung fegte er die Asche aus dem Licht. Wie Sonnenschein, der plötzlich hinter einer schwarzen Wolke hervorbricht, verstärkte sich das weiße Glühen, das durch den grausamen Mord matt und stumpf geworden war, versuchte verzweifelt, das Gift fortzuspülen und die Wunde zu schließen, die er ins lebendige Gewebe des Waldes gerissen hatte. Ogaire wusste, dass der Kampf vergeblich sein würde.
Das Herz des Waldes war zu rein, zu makellos und unverdorben, um eine derartige Schändung anders als mit innerer Erstarrung und ohnmächtigem Leiden beantworten zu können. Die Fäulnis, die sein obszönes Ritual hinterlassen hatte, würde weiterwuchern, wie eine stinkende Kloake durch die silbernen Nabelschnüre sickern und ein Leichentuch aus Tod und Verwesung über den Hain breiten – ein Leichentuch, das mit jedem Jahr, das verstrich, dicker und schwerer werden würde, bis auch der letzte Funke Leben, der noch in den verdorrten Leibern glomm, zu grauer Asche geworden war.
Der pumpende Herzschlag der Quelle selbst würde dafür sorgen, dass der Keim der Verdammnis zu jedem Baum und jedem Strauch, zu jeder Dryade, Blütenfee und jedem Elfen getragen wurde. Die Dunkelheit würde ihre Seelen verschlingen, Stück für Stück, würde die Flamme des Lebens in ihnen ersticken, lange bevor sie tatsächlich gestorben waren, und der einst so strahlende Hain würde zu einem kalten, düsteren Ort werden, einem Ort der Trauer und der Bitterkeit, wo Gesang und Tanz nur noch Gespenster in den staubigen Hallen der Erinnerung sein würden und die Gräber der Toten anklagend zu einem grauen, gleichgültigen Himmel emporstarrten.
Ogaire konnte sehen, wie es begann. Schon wurde das Licht der Quelle wieder schwächer, verwandelte sich trotziges Aufbegehren in Resignation und Hoffnungslosigkeit, als die Kräfte der Natur hilflos vor der Saat des Bösen kapitulierten. Graue Schlieren mischten sich in das strahlende Weiß, Wirbel aus Fäulnis und Verwesung, die dem Elfenhain auf ewig sein düsteres Mal aufdrücken würden.
Mit einem letzten zufriedenen Blick auf die Abscheulichkeit, die er geschaffen hatte, trat Ogaire aus dem Licht auf die Lichtung hinaus. Gleichmütig betrachtete er die schwarze, verkohlte Fläche, die noch vor wenigen Augenblicken eine blühende Wiese gewesen war. Die Obszönität seiner Schändung war wie Eiter aus dem gequälten Herzen des Waldes hervorgebrochen, eine giftige, kochende Brühe, die jeden Grashalm und jede Blume, jeden Strauch und jeden Baum im Umkreis von mehreren hundert Metern zu rauchender Schlacke und bizarren, wie verkrümmte Skelettfinger aus der Erde ragenden Schattengebilden zusammengeschmolzen hatte, zu schwarzen, verkrüppelten Zerrbildern ihrer einstigen Schönheit, aus denen jegliches Leben für immer gewichen war.
Ogaire verschwendete keinen Gedanken daran. Unsichtbar und unantastbar für die anderen Elfen, die in ohnmächtigem Zorn und fassungsloser Wut nach ihm suchten, ohne auch nur ansatzweise die wahre Dimension dessen zu ahnen, was er getan hatte, zog er sich zurück. Nur wenig später passierte er die Grenze des Hains und betrat die Welt der Menschen.

1. Kapitel

Luft! Warum gab es in diesem ganzen verdammten Gebäude nur so wenig Luft? Verzweifelt zerrte Andion am Kragen seines T-Shirts, aber es nützte nichts. Obwohl die Schrecken des heutigen Tages gerade erst begonnen hatten, schien der sadistische Folterknecht, der die Geschicke seines jämmerlichen Lebens lenkte, bereits zu so früher Stunde zu Höchstform aufzulaufen. Trotz der stickigen Hitze im Klassenzimmer stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn, und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie in einen unsichtbaren Schraubstock eingespannt, der mit jedem Ticken der billigen Plastikuhr, die wie ein höhnisch glotzendes Auge über der geschlossenen Tür seines Gefängnisses hing, eine Umdrehung weiter zusammengedrückt wurde.
Die Hände unter der zerschrammten Tischplatte zu Fäusten geballt, den würgenden Geschmack naher Panik im Mund, flog sein gehetzter Blick durch den Raum, doch weder die dicken, steinernen Mauern des alten Schulgebäudes mit ihren blinden, staubigen Fenstern noch die viel zu niedrige Decke, die mit dem Gewicht eines Gebirgsmassivs auf ihm lastete, versprachen einen Ausweg aus seiner Qual.
In ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Er saß hier mit 20 anderen Schülern – und einem fetten Choleriker, der sich selbst hochtrabend Lehrer schimpfte – im gleichen Raum, und doch war er offenbar der Einzige, der das Bedürfnis verspürte, schreiend von seinem Platz aufzuspringen und mit seinen bloßen Händen die grauenhaften Wände niederzureißen, die die Luft und das Licht von ihm fernhielten und langsam das Leben aus ihm herausquetschten wie aus einer Blume, die von einem gleichgültigen Kind gepflückt und zum Trocknen zwischen zwei Betonplatten gelegt worden war. Fast glaubte er zu spüren, wie die Mauern immer dichter zusammenrückten, wie sich die Decke tiefer und tiefer auf ihn herabsenkte, ein hungriges Raubtier, das darauf lauerte, seine wehrlose Beute in einem unachtsamen Augenblick zwischen seinen tödlichen Kiefern zermalmen zu können. Doch natürlich war das eine Illusion. Andion wusste, dass der Tod, wenn er ihm irgendwann einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat, weit weniger gnädig mit ihm sein würde.
Er bohrte sich seine Fingernägel ins Fleisch, bis seine Handflächen schmerzhaft zu pochen begannen. Langsam, fast wie eine düstere Meditation, ließ er seinen Blick über seine Mitschüler wandern, betrachtete stumm ihre teils gelangweilten, teils interessierten Gesichter, während sie dem monotonen Vortrag Mr. Colegraves lauschten. Wieder einmal wurde er sich schmerzlich des Abgrundes bewusst, der zwischen ihm und ihnen klaffte – eines Abgrundes, wie er tiefer und unüberwindbarer gar nicht sein konnte. Längst hatte er es aufgegeben, sich diesbezüglich etwas anderes einreden zu wollen. Er war nicht wie sie, und er würde es niemals sein. Dazu war es nicht einmal nötig, dass sie irgendetwas Bestimmtes taten, ihm durch ihr konkretes Handeln das Gefühl gaben, dass er niemals mehr als ein Fremder unter ihnen sein würde. Er fühlte, dass es so war. Die Empfindungen, die sie bewegten, lagen so offen vor ihm, waren sogar mit geschlossenen Augen so deutlich zu spüren, dass jeder Versuch einer Selbsttäuschung sogleich zu einer lächerlichen Farce verkam, zu einer Lüge, an die zu glauben ihn auch noch den letzten armseligen Rest seiner Würde gekostet hätte, die ihm nach all den Jahren des Leidens noch geblieben war.
Er grub seine Fingernägel noch tiefer in sein Fleisch, und seine Zähne mahlten knirschend aufeinander, hielten den verzweifelten Schrei zurück, der aus seinem Inneren hervorbrechen wollte. Zitternd schloss er die Augen, versuchte die würgende Übelkeit niederzudrücken, die seinen Magen zusammenkrampfte, während die Welt im Rhythmus seines hämmernden Herzschlags um ihn zu schwanken begann und sich seine Kehle immer mehr anfühlte, als habe ihm jemand einen Eimer mit Sand in den Rachen gekippt, der langsam in seine Lungen hinabrieselte und ihm unerbittlich die Luft abschnürte. Schon spürte er die dunklen Schwingen der Ohnmacht, die zärtlich über seinen Geist strichen, ihn forttragen wollten von diesem schrecklichen Ort, der nichts als Qual und Einsamkeit für ihn bereithielt. Doch er durfte ihrem Ruf nicht folgen, sich der lockenden Dunkelheit nicht ergeben. Würde er wieder einmal wie ein nasser Sack Mehl von seinem Stuhl rutschen, würde sich das Füllhorn höhnischen Spotts, das seine Klassenkameraden jeden Tag aufs Neue mit den erlesensten Kostbarkeiten aus dem unerschöpflichen Vorrat ihrer Giftküche füllten, zweifelsohne auf der Stelle über ihn ergießen, und ihm stand so früh am Morgen noch nicht der Sinn danach, seine schutzlose Kehle den Wölfen darzubieten. Er musste durchhalten! Bald würde der Pausengong das Ende des Martyriums verkünden, und er konnte ...
„McKay! Wünschen Eure Lordschaft vor dem Zubettgehen noch ein Tässchen heiße Milch mit Honig, oder seid Ihr bereits in die süßen Gefilde des Schlafs entschlummert?“
Erschrocken riss Andion die Augen auf. Die kolossale Gestalt Mr. Colegraves ragte wie ein Berg vor ihm in die Höhe – ein Berg mit tückischen kleinen Augen, die boshaft auf ihn herabstarrten, und einem erwartungsvollen Haifischgrinsen auf den wulstigen Lippen.
Andion hatte nicht bemerkt, wie der Lehrer nähergekommen war, hatte nicht die Bugwelle aus kalter Wut und hämischer Vorfreude gespürt, die sich durch die emotionsgeschwängerte Luft auf ihn zubewegt hatte.
Nun war geschehen, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Mr. Colegrave hatte ihn am Haken, und er würde ihn so lange zappeln lassen, bis er ihn mit dem Gesicht nach unten in den Staub getreten hatte. Der fette Geschichtslehrer war niemand, den man sich leichtfertig zum Feind machte – aber aller guten Vorsätze zum Trotz hatte Andion das in nur wenigen Stunden fertiggebracht.
Scharfkantige Splitter aus zerbrochenen Träumen, aus Bitterkeit und Enttäuschung und dem boshaften Wunsch, andere Menschen für die ihm zugefügten Schmerzen bluten zu lassen, prasselten wie ein Regen aus Eiskristallen auf ihn nieder, als sich der Geschichtslehrer mit seinen baumstammdicken Armen auf seine Tischplatte stützte und sich mit einem verächtlichen Grinsen zu ihm herabbeugte.
„Ich bitte um Vergebung, Mylord, sollten die groben Worte des Pöbels Euer zartes Gemüt in ungebührlichen Aufruhr versetzt haben.“ Mr. Colegraves Stimme troff vor Hohn. „Wer bin ich, Euer göttliches Genie in Frage stellen und dem gewaltigen Schatz Eures Wissens meine eigenen armseligen Kupferstücke hinzufügen zu wollen?“ In einer absurden Parodie demütiger Zerknirschung neigte der Geschichtslehrer seinen massigen Schädel.
Schadenfrohes Gekicher erhob sich um ihn herum. Andion knirschte mit den Zähnen. Den Blick starr auf das Blatt Papier gerichtet, das vor ihm auf dem Tisch lag, presste er ein mühsames „Es tut mir leid, Sir“ hervor, wohl wissend, dass nichts von dem, was er sagte oder tat, Mr. Colegrave davon abhalten würde, ihn vor der versammelten Klasse zu Wurstgulasch zu verarbeiten.
Doch obwohl alles in ihm danach schrie, aufzuspringen, aus dem nächsten Fenster zu hechten und so lange zu rennen, bis er mindestens tausend Meilen zwischen sich und die düstere Wolke aus Herablassung und Wut gebracht hatte, die bedrohlich und kalt vor ihm in die Höhe ragte, blieb er wie versteinert auf seinem Stuhl sitzen, starrte auf seine Tischplatte und presste stumm die Lippen aufeinander. Mr. Colegrave jetzt auch noch anzusehen, wäre keine gute Idee. Auch dies war eine Lektion, die er bereits früh in seinem Leben hatte lernen müssen.
Andion spürte, wie sich die Gefühle des Geschichtslehrers veränderten, wie er sich bereit machte, die bizarre Scharade zu beenden, und zum Schlag ausholte. „Glaubst du etwa, das hier wäre ein Spiel, McKay?“ zischte er. Er hatte sich noch tiefer zu ihm heruntergebeugt, schien wieder einmal die Unterwerfung seines Gegners mit der schieren Masse seines gewaltigen Körpers herbeizwingen zu wollen. „Glaubst du im Ernst, ich lasse mich von dir für dumm verkaufen?“
Die Wolke aus Zorn wurde heiß, brannte wie kochender Teer auf seiner Haut. Andion schluckte. Der Geschichtslehrer war zweifellos in noch üblerer Stimmung als sonst, und er schien entschlossen, ihn dafür büßen zu lassen.
„Aber vielleicht ist dir ja die Bedeutung des Wortes Schule entgangen. Schule ist nicht der Ort, an dem man nach einer durchzechten Nacht seinen Rausch ausschläft. Und es ist nicht der Strand von Malibu, wo halb nackte Blondinen in ihren Bikinis vor dir herumhüpfen und du dich an deinen feuchten Träumen delektierst!“
Dornen aus schwarzem Feuer bohrten sich in sein Fleisch, sengten eine Spur aus kochender Dunkelheit in seinen Geist. Verzweifelt rang Andion nach Luft.
Mr. Colegrave fixierte ihn mit dem kalten Blick einer Schlange, die wusste, dass ihre Beute unwiderruflich in der Falle saß und nichts mehr tun konnte, um den zustoßenden Giftzähnen noch zu entkommen. „Aber niemand soll behaupten, ich hätte kein Herz für die Einfältigen und Verwirrten. Heute ist dein Glückstag, McKay! Ich werde deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.“ Andion spürte, wie sich die Lippen des Lehrers erneut zu seinem widerwärtigen Haifischgrinsen verzogen. „Also, bis zur nächsten Stunde will ich 20 Seiten von dir sehen, 20 Seiten über die Bedeutung des Götterpantheons für das soziale Leben der griechischen und römischen Gesellschaft. Natürlich wirst du aus Respekt vor dem kulturellen Erbe unserer Vorfahren auch diesmal den dekadenten Verlockungen der modernen Technik widerstehen und wie jedes vernunftbegabte Lebewesen in den letzten 5000 Jahren für deine historische Expertise ein schnödes Blatt Papier und einen Stift benutzen. Und da wir gerade dabei sind, du hast mir deine letzte Ausarbeitung noch nicht gezeigt!“
Auch eine Strafarbeit, ebenfalls über das Thema Mythologie. Darum drehte sich zurzeit alles in Mr. Colegraves Unterricht. Tragischerweise war gerade das eine Leidenschaft, die Andion mit dem Geschichtslehrer teilte, und hätte der Unterricht draußen auf dem sonnengewärmten Rasen statt im Betonsarg des alternden Schulgebäudes stattgefunden, hätte er Mr. Colegrave bewiesen, dass er tatsächlich Freude am Lernen hatte.
Hastig kramte er die zehn eng beschriebenen Seiten aus seiner Tasche hervor und schob sie in Richtung des hasserfüllten Brodems, der lauernd wie ein hungriger Schakal vor ihm in der Luft schwebte. Noch immer hielt er seinen Blick gesenkt, wagte nicht aufzusehen.
Sein Aufsatz wurde ihm aus den Händen gerissen, dann herrschte einige Sekunden lang bedrohliche Stille. Andion erkannte an der boshaften Genugtuung, die plötzlich von dem Lehrer ausstrahlte, dass dieser sofort mit der Lektüre begonnen haben musste – natürlich, schließlich würde er sich eine derart vortreffliche Gelegenheit, ihn zu demütigen, keinesfalls entgehen lassen.
Er spürte, wie seine Handflächen vor Nervosität feucht wurden. Vielleicht hätte er doch lieber etwas aus einem Buch abschreiben sollen, aber dazu hätte er zuerst in die Bücherei gehen und dort nach passendem Material suchen müssen, denn Bücher waren leider so ziemlich das Letzte, was in den Schränken ihrer kleinen Wohnung zu finden war. Auch dies war etwas, das er schon seit vielen Jahren zu akzeptieren gelernt hatte. Es war gefährlich, zu sehr an den Dingen zu hängen. Ein Moment der Unentschlossenheit, ein Augenblick des Zögerns bei der Entscheidung, was zurückgelassen oder besser mit ein paar hastigen Handgriffen in eine ihrer Reisetaschen gestopft werden sollte, mochte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, wenn sie das nächste Mal ihr Versteck wechseln mussten.
Blieb also nur die Bibliothek. Die aber lag in einem der modernsten Gebäude der Stadt – einem gewaltigen Koloss aus Stahl und Glas, der ihm schon beim bloßen Anblick die Luft knapp werden ließ. Dort hineinzugehen wäre ebenso selbstzerstörerisch gewesen, wie von einer zehn Meter hohen Brücke zu springen – wobei er die Brücke jederzeit vorgezogen hätte.
Also hatte er stattdessen aus einer anderen Quelle geschöpft – aus dem unendlichen Fundus an Geschichten, die sein Vormund Ian ihm erzählt hatte, damals, in den dunklen, einsamen Stunden seiner Kindheit, als das zunehmende Wissen um den Schrecken, der über seinem Leben schwebte, seine kleine Seele in Furcht und Entsetzen zu ersticken drohte und er Nacht für Nacht zitternd in seinem Bettchen gelegen hatte, voller Angst, der Schatten aus seinen Albträumen habe sich mit seinen Klauen einen Weg in die Wirklichkeit gegraben, um in einem Moment der Unachtsamkeit über ihn herzufallen, zu packen und zu sich in sein kaltes, finsteres Reich hinabzuzerren.
Ians Geschichten waren das Licht gewesen, das ihm Wärme und Geborgenheit gegeben hatte, mehr noch als die Gegenwart seiner Mutter, sogar mehr als das Flüstern des Windes in den Bäumen und der Anblick der ersten Frühlingsblumen nach der eisigen Umklammerung des Winters. Plötzlich schlug ihm das Herz bis zum Hals, und er hatte das Gefühl, einen kostbaren Diamanten in die schmierigen Hände eines Leichenfledderers gelegt zu haben.
Schon hörte er, wie Mr. Colegrave tief und theatralisch Atem holte und sich seine Mitschüler in lüsterner Erwartung auf ihren Plätzen vorbeugten, spürte er die hungrige Gier, die plötzlich wie eine Welle aus schnappenden Haifischkiefern durch den Klassenraum wogte.
„Gepriesen sei der Herr für die Gnade, die Er seinen armseligen Dienern am heutigen Tage hat zuteilwerden lassen“, rief Mr. Colegrave mit der salbungsvollen Stimme eines Herolds, der gerade den Aufmarsch der himmlischen Heerscharen verkündete. „Höret nun und neigt euer Haupt in Ehrfurcht. Das Genie spricht zu euch!“ Er räusperte sich noch einmal lautstark und raschelte bedeutungsvoll mit den Blättern der Strafarbeit in seinen fleischigen Händen.
„In früheren Zeiten waren sich die Menschen, anders als heute, der Gegenwart der Elfen, Sylphen und Blütenfeen durchaus bewusst, auch wenn sie sie nur selten zu Gesicht bekamen. Sie wussten, dass die Reiche der Menschen und die der Elfen und des Kleinen Volkes sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten berührten und überschnitten, so etwa zur Zeit der Wintersonnenwende, der Tagundnachtgleiche oder auch an jedem gewöhnlichen Tag im Zwielicht der Dämmerung. Zäune und Türrahmen waren Orte, an denen wundersame Begegnungen stattfanden, und manch einer fürchtete sie, trieben doch die Wesen des Kleinen Volkes oft ihren Schabernack mit den Menschen.
Anders als die Sylphen und Blütenfeen, die Kobolde und Gnome waren die Elfen von zu edler und aristokratischer Natur, um an derartig derben Späßen Gefallen zu finden. Sie achteten und respektierten ihre menschlichen Nachbarn, boten ihnen ihre Hilfe an, wo sie benötigt wurde, und lebten in stiller Harmonie mit jenen, deren Dasein um so vieles mühseliger und entbehrungsreicher war als das ihre und deren Lebensflamme bereits wieder erlosch, bevor die ihre noch richtig zu brennen begann. Mächtige Elfenfürsten schlossen heilige Bünde mit menschlichen Familien und gewährten Reichtum und Glück für Hingabe und Treue, und der Wind der Hoffnung und des Friedens wehte durch beide Welten.
Doch im Laufe der Zeit verlernten die Menschen, an Wunder zu glauben. Sie vergaßen den Zauber der Magie, errichteten Städte aus Stahl und Beton und drängten die Welten des Zwielichts zurück in den Schatten, zurück in die Dunkelheit des Vergessens und der Unwissenheit. Gewaltige Elfenhaine, die einst Kontinente überspannt hatten, schrumpften zu kleinen Inseln zusammen, und die Zahl der Elfen nahm immer mehr ab.
Mit ihnen verschwanden auch die Wesen des Kleinen Volkes und die Naturgeister. Einige gingen in den Elementen auf, andere flohen in die Elfenhaine und suchten dort Zuflucht vor einer Welt, in der sie keinen Platz mehr für sich finden konnten.“
Das Gelächter in der Klasse wurde so laut, dass Mr. Colegrave an dieser Stelle abbrach. Verächtlich warf er die Blätter vor Andion auf den Tisch.
„Was zum Teufel soll das sein, McKay? Falls du es bisher noch nicht bemerkt hast, das hier ist ein seriöser Geschichtsunterricht und keine Märchenstunde! Deine Aufgabe lautete, eine Ausarbeitung über den volkstümlichen Aberglauben des Mittelalters anzufertigen, nicht dir irgendeinen Blödsinn aus den Fingern zu saugen! Verstehst du das etwa unter einer sorgfältigen Recherche? Glaubst du, das da wäre Wissenschaft? Damit könntest du höchstens in Hogwarts Karriere machen, aber nicht in Amerika, und nicht in meinem Unterricht!“ Mit einer abfälligen Bewegung wischte er die Blätter vom Tisch. „Das ist Mist, McKay! Totaler Mist!“
Etwas in Andion verkrampfte sich. „Aber ...“
„Streite es nicht auch noch ab! Du bist hier nicht im Auenland, McKay! Wann begreifst du das endlich?“
Andion presste stumm die Lippen aufeinander. Nein, er war nicht im Auenland. Er war ein Wanderer im Schatten, irrte umher in der Dunkelheit Mordors, ohne Hoffnung, jemals das rettende Licht zu erreichen; ein Verdammter, gebunden von Ketten, die ein unbarmherziges Schicksal ihm aufgezwungen hatte, und verfolgt von den Gespenstern, die in den düsteren Abgründen seiner Erinnerung auf ihn lauerten. Aber das konnte und wollte er Mr. Colegrave ganz sicher nicht erklären. Dazu hätte er zu viel preisgeben müssen, was weder sein Lehrer noch seine Mitschüler jemals erfahren durften.
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