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Alt 29.04.2012, 10:26
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Drachentoeter
 
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Zwischenspiel

Wie verschiedene Personen in Avalien die folgende Nacht verbrachten:
Jorin konnte es fast nicht mehr erwarten. Morgen würde er zum Silbernen Sumpf aufbrechen, und welch Macht auch immer dort verborgen lag, sie würde sein werden. Er hatte zwar noch immer keine Vorstellung davon, wie er es anfangen wollte und was ihn dabei erwartete, doch vor Ort würde sicher alles ganz anders aussehen. Er hatte wenig Vertrauen in die Fähigkeiten seiner stummen Begleiterin diesbezüglich. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie zu sich zu rufen, doch nein, er war ihr kaltes Fleisch leid. Bald würde er der erste wahre Gottkönig auf dem Drachenthron Avaliens sein, erst dann würde er wissen was Befriedigung bedeutet.
Nortia kam sich immer mehr vor wie amputiert. So vieles was ihre gewohnte Welt bislang ausmachte, es war ihr genommen worden. Gerüche, Ahnungen, die instinktive Klarheit der Dinge. Was ihr wesentliches Selbst ausgemacht hatte, es war fort. Dessen wurde sie sich immer schmerzlicher bewusst. Und auch dessen, was sie mit dem Menschen tun würde, der ihr dies angetan hatte...
In einer verlassenen Bärenhöhle träumte Feldan die wohligen Träume einer goldenen Zukunft, die ein anderer ihm ermöglichen würde.
Im eroberten Hendar Sül genoss Begimeil seinen Wein, während hinreissende dunkle avalische Sklavinnen ihm den langen Bart kämmten und den schmerzenden Nacken massierten. Er lachte innerlich in sich hinein, während er die Berichte über den Fortgang der Eroberung entgegennahm. Welch Genugtuung nach dem schändlichen Waffenstillstandsabkommen, welches sein Vater gezwungen war zu unterzeichnen! Er würde die Ehre des Greifenreiches vor den Augen der Welt wieder herstellen. Niemand welcher sich an dem großartigen Pelingora vergangen hatte bekam von ihm eine zweite Chance.
Arngshsziss wurde bewusst, dass das Leben eines Großen Häuptlinges nicht einfacher war als das eines einfachen Kriegers. Als erstes hatte er verfügt, dass alle Clans wieder in ihre angestammten Gebiete zurückkehrten und Frieden hielten. Alle waren dem nachgekommen, auch jene die nach Felsen rochen, doch sie weigerten sich hartnäckig ihre Todspucker abzugeben. Es kam zu zahlreichen Racheakten, und er hatte nicht den Versuch unternommen sie zu unterbinden. Besser der Zorn entlud sich nun in einigen Tötungen, als dass es nach Jahren des unterdrückten Hasses zu einer gewaltigen Explosion im Unterreich kam. Blutfehden hatte es immer gegeben, doch immer waren es die Taten Einzelner, nicht die von Gruppen. Noch immer riefen viele klagend von der verlorenen Sonne und verwünschten die plattschnäutzigen Eindringlinge, die nun in Candvallon saßen. Es war einfach einen Gegner im Kampf zu töten, doch wie sollte er einen Traum zerstören? Und hatte er überhaupt das Recht dazu?
Ein Quarter vor der achten Stunde erschien Gusgan im "Jaulenden Jeggo", der eine recht saubere, gutbürgerliche Stube war, und orderte eine Karaffe von dem seines Dafürhaltens besten Traminer, den man in ganz Avalien für Geld kaufen konnte. Die achte Stunde kam, doch noch immer saß er allein an dem Tisch. Schulterzuckend leerte er die Karaffe zur Hälfte. Ein Quarter verging, und ein weiteres. Er orderte eine weitere Karaffe, zum Mitnehmen. "Ihr Dummköpfe," sagte er beleidigt, als er aufstand. "Zufällig weiß ich, dass dieses Stöffchen morgen für die kämpfende Truppe beschlagnahmt wird. Ihr werdet nie wissen was ihr versäumtet." Es war ohnehin Zeit, nach Sillisa zu sehen.

Sanft glitt der Kajak durch das sich im Wind kräuselnde Wasser. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass seine stumme Gefährtin mit einem Arm nicht rudern konnte, hatte er selbst diese unwürdige Arbeit übernehmen müssen. Das Kajak hatten sie am Ufer des Sumpfes gefunden: Entweder es war das Boot Gerrics oder das eines anderen Unglücklichen, der versucht hatte hier zu Macht zu gelangen.
Der Sumpf war ein sich weit erstreckender, von Bäumen und Seepflanzen durchzogener Spiegel. Das Wasser wirkte tatsächlich ein wenig silbern- Bislang konnte Jorin aber nicht feststellen, was daran so wichtig sein sollte. Der König hatte deshalb vor zu der Insel hinüberzurudern, welche in der Mitte des Gewässers lag. Dort stand auf dem Eiland ein alter Tempel eines ihm unbekannten Gottes, den wohl die Indianer, die früher hier geherrscht hatten verehrten. Dunkler Obsidian ragte dort in hohen Säulen und Mauern auf. Das Eingangstor des Heiligtums zierten zwei mannshohe Statuen aus rotem Granit, die Waffen in den Händen hielten, die einer Mischung aus Lanze und Säbel glichen. Kein Wunder, dass viele Leute den silbernen Sumpf aufsuchten. Wenn das Gebäude von außen bereits so prachtvoll wirkte- was mochte sich dann erst im Inneren aufhalten?
Plötzlich wurde er auf eine Bewegung im Wasser aufmerksam: Etwa zwanzig Schritt von Ihnen entfernt begann plötzlich silberner Rauch vom Wasser aufzusteigen. Immer höher schraubte sich die Säule in den Himmel, bis sie in etwa auf Augenhöhe mit den Wächterfiguren war, dann wirbelte sie träge auf ihn zu. Fasziniert beobachtete Jorin wie das Wesen mit der Umwelt verschwamm und als riesiger glitzernder Fleck auf ihn zu glitt. Unterdessen stiegen an zwei anderen Orten ebenfalls Rauchwolken in den Himmel. Die Gishka hatte unterdessen ihr Schwert gezogen, doch er selbst blieb ruhig und hob und senkte das Ruder. In'Ahte'Fah wusste sicherlich über die Gefahren des Sumpfes Bescheid und würde ihn nicht im Stich lassen.
Die erste der drei Gestalten begann sich zu verwandeln: In einen silbernen Menschen. Es war Sillisa. Die Königin starrte ihn aus stechenden, kalten Augen an. Dann wandelte sich das Wesen ein weiters Mal. Die Konturen der Königin wurden weicher, die Glieder kürzer, das Haar verschwand, ebenso die Brüste. Der ganze Körper zog sich zusammen, bis ein silberner Säugling auf Jorin zuschritt. Die bohrenden, unangenehmen Augen, welche ihn aufzuspießen drohten waren die selben geblieben. Das muss das Kind sein! Der Säugling, der mir meinen Thron rauben will! Wut entbrannte in Jorin, als er den Säugling beobachtete, der ihn höhnisch anzugrinsen schien.
Er drehte sich um: Auch die beiden anderen Rauchsäulen hatten sich inzwischen verwandelt. Zum einen Begimeil, auf dessen Stirn sich die pelingorische Zackenkrone ausbildete. Der Mann verzerrte den grausamen Mund zu einem kalten Lächeln und zog mit einer gewandten Bewegung ein Schwert.
Die Person neben ihm: Rasmund von Nesolata. Dieser Dreckskerl, dachte Jorin, während er in das strahlende Gesicht des jungen Mannes starrte, hinter dem geschmeidig ein silberner Mantel herwehte. Noch vor ein paar Monaten waren sie zusammengehockt und hatten gemeinsam besten rogalischen Wein kredenzt. Jetzt rückte er mit seinen Truppen nach Avalien vor.
Schweigend beobachtete er mit der Gishka wie sich alle drei Gestalten unaufhaltsam dem Boot näherten. So langsam wäre ein Hilfestellung von In'Ahte'Fah wirklich angebracht...
Eine vierte Gestalt erschien, auf der kleinen Insel vor dem uralten Indianertempel, und sie tanzte wild und leidenschaftlich zu dem Rhytmus unhörbarer Trommeln. Erstaunt stellte Jorin fest, dass es niemand anders als Sillisa war, und doch war es nicht die Königin. Keine Spur von der vertrauten Warmherzigkeit und Herzensgüte (die diese Schlange nur zu gern zur Schau trägt, dachte Jorin angeekelt). Nein, dies war eine perverse Sillisa der Finsternis, die ihr Volk versklavt, ihr Baby abgetrieben und ihren Gatten gefressen hatte.
Die drei Silbergestalten verharrten und riefen wie aus einem Munde:
WER IST KÖNIG VON AVALIEN?
Die wie wahnsinnig tanzende Schattenkönigin verhielt und starrte Jorin direkt ins Gesicht. Und er wußte, dass er die Wahl zu treffen hatte, hier und jetzt. Furcht oder Stärke, alles oder nichts.
Entschlossen richtete er sich in dem schwankenden Kajak auf und rief im Brustton des Stolzes: "Das bin ich! Ich bin der einzig wahre Herrscher auf dem Drachenthron! Alle Macht in diesem Reiche geht einzig und allein von mir aus! Mir, Jorin dor Tucanat Rex, König von Avalien!
Fort mit euch, ihr bleichen Gespenster! Mein Blut ist geheiligt, denn es wurde durch sechzehn Könige vor mir veredelt! Ihr könnt mich nicht verletzen! Versucht es, und ich vernichte euch!"
Sillisas Augen sandten ihm tausend Glückwünsche für seinen Mut und zu seiner Herrlichkeit. Sie begann wieder mit ihrem Tanz, und er wußte, nun tanzte sie nur für ihn. Die Silbergestalten vergingen wieder zu Nebel und wehten ihm zu. Im gelassenen Hochgefühl des wahren Herrschers trank er sie. Sein Inneres schien zu wachsen, sich auszudehnen, er war angefüllt mit Macht. Zufrieden sank er wieder zurück in den Kajak und genoss dieses Gefühl uneingeschränkter Allgewalt, auf das er von Geburt an ein Anrecht hatte und das ihm so lange verwehrt wurde.
Die Augen der Gishka nahmen wieder den Glanz des Un-Lebens an, und mit dem Stumpf ihres linken Armes führte sie seine rechte Hand über den Bootsrand ins Wasser.
Blut von sechzehn Königen! Eine Göttin zur Gespielin! Wer wollte ihm widerstehen?

Die Gishka führte die Spitze ihres Kurzschwertes an seine Armbeuge, stach hinein und zog eine lange Spur abwärts bis zum Handgelenk.
Eine unbesiegbare Armee, die keinen Schmerz kannte und jeden Befehl widerspruchslos ausführte. Nicht der schlimmste Alptraum seiner Feinde, nein, die Summe all ihrer Alpträume!
Wo das herabrinnende Blut das silbrige Wasser berührte, begann dieses zu brodeln und silberner Nebel stieg auf. Die rote Färbung breitete sich ungewöhnlich schnell aus; bald hatte der ganze Sumpf die Farbe von Blut angenommen, dem heiligen Blut von sechzehn Königen.
Er würde Avalien zum stärksten Reich der Welt machen! Die schwachen Könige der Nachbarreiche würden gesenkten Hauptes vor ihm knien, um ihm ihren Tribut zu überreichen, und er würde diesen hohnlachend in ihre ängstlichen Visagen schleudern, ehe er ihnen das Genick brach. Er würde die ganze Welt zu seinem Avalien machen! Er würde...
...für meine Macht mit seinem heiligen Blut bezahlen! lachte In`Athe`Fah. Stirb nun, König der Dummheit, und mein Dank ist dir gewiss...
Ehe Jorin reagieren konnte stach die Gishka zu. Ganz langsam schien ihr Kurzschwert unterhalb des Daumenballens durch das Fleisch zu gleiten und durchstieß dabei seine Schlagader. Das Blut von sechzehn Königen wurde in der Luft versprüht, als die Gishka den besudelte Stahl herauszog und Jorin schreiend die arme durch die Luft riss. Er stolperte, flog über den Rand des Kajaks und stürzte in den Sumpf. Um seinen wild schlagenden Körper glitten rote Schleier durch das silbrige Wasser. Der Blutverlust trübte seinen Verstand. Panisch versuchte er gegen den Tod anzukämpfen, doch die Welt begann sich um ihn zu drehen: Das Kajak, die Sträucher, die silberne Gestalt. Sein Blick wandte sich zum kupferrotem Himmel ab. Dann schlug das Wasser über ihm zusammen und Jorin versank in der Tiefe, während sein Bewusstsein erlosch...

Der Mann, der seinen Namen vergessen hatte, saß an Bord eines Kajaks. Neben ihm saß eine einarmige Frau, die ebenfalls Dienerin seiner geliebten Göttin war. Deshalb bedachte er sie mit Wohlwollen. Sie selbst hatte sich in all ihrer Pracht auf dem Boot niedergelassen, während er sie zu der Insel in der Mitte des Sumpfes hinüberruderte. Fasziniert beobachtete er ihre vollkommenen Gesichtszüge, ihre wallendes, blondes Haar und ihre anziehenden dunklen Augen. Er ruderte schneller.
Endlich erreichten sie den Tempel. Als sie anlegten wollte er seiner Herrin sofort beim Aussteigen behilflich sein, doch die andere Frau kam ihm zuvor. Eifersüchtig musterte er, wie die Göttin ihrer einarmigen Dienerin ein Lächeln zuwarf. Dann stieg auch er aus und folgte den Beiden, weil man ihm nicht befohlen hatte im Kajak zurückzubleiben.
Das Tor zum Tempel, dass von den beiden riesigen Statuen bewacht wurde war verschlossen, vor dem Prachtbau stand ein Altar aus rotem Marmor, in dem eine Öffnung eingelassen war. Über dem Loch standen Schriftzeichen, die er nicht Lesen konnte. Seine Göttin, die allwissend war verstand sie natürlich.
Sie drehte sich zu ihm um: "Wir müssen ein Blutopfer darbringen um Zugang zu erhalten. Fülle das Loch mit deinem Blut!" sie reichte ihm ein Messer und blickte ihn erwartungsvoll an.
Ja! Das war seine Chance sich vor seiner Herrin zu beweisen. Eifrig nahm er die Waffe entgegen und stocherte mit ihm an seinem Arm herum, bis aus diesem Blut herausfloss. Er spürte keinen Schmerz. Seine Göttin musterte den Vorgang zufrieden.
Ein Knirschen ertönte und die großen Steinflügel schoben sich auf. "Es reicht!", sagte ihm seine Herrin: "Verbinde die Wunde und folge uns dann!" Sie und die Gishka betraten die Tempelanlage und der Mann, der seinen Namen vergessen hatte beeilte sich hinterher zukommen.
Als die kleine Prozession durch das Portal schritt, ertönte ein lautes Knirschen. Es kam von den beiden Statuen, welche wie in Ekel das Gesicht von den dreien abwandten.
Es ist noch Leben in dir, flüsterte die linke dem Mann ohne Namen zu.
Du gehörst ihr noch nicht völlig, raunte die rechte.
Und beide: Kehr um!
Wut stieg in ihm hoch. Diese Steinhaufen wagten es, die Allmacht der Herrin in Frage zu stellen! Blasphemie! Ohne zu zögern schritt er weiter voran.
Das Innere stellte sich als schmuckloser heraus als von ihm zuvor erwartet, es schien eher einem Wigwam nachempfunden. Undefinierbare Gerätschaften lagen überall herum, viele zerfallen und alles dick mit Staub und Spinnweben überdeckt. Eine Stahlampel hing von dem Zentrum der gewölbten Decke herab, dort wo sich bei einem echten Wigwam der Rauchabzug befand. Ein grünliches Leuchten befand sich darin, doch es flackerte und drohte jeden Augenblick zu verlöschen.
Die Schwarze Königin baute sich eisig lächelnd davor auf und breitete in höhnischer Verehrung die Arme aus. "Meinen Gruß, Yogohalontac, Großer Geist der Erde derer, die sich einst Herren dieses Landes nannten. Du Geber von Nahrung und Schutz, dessen Blut die Lebensströme dieses Landes sind. Du, an den sich heute kaum noch jemand erinnert. So wie ich eines Tages zu jedem komme, so komme ich heute nur für dich."
In sadistischster Vorfreude spitzte sie die Lippen, um das mühselig flackernde Licht auszupusten.
Sanft bließ sie ihren Atem gegen die zuckende Flamme, welche sich in Rauch verwandelte. In'Ahte'Fah ließ ihren Blick umherschweifen, doch nichts geschah: Weder brach der Tempel über ihren Köpfen zusammen, noch rührten sich die roten Torwachen. "Es ist an der Zeit für eine neue Göttin", flüsterte sie und ging weiter.
Sie erreichten eine klinkenlose Tür mit Steinreliefs, welche zum großen Hauptraum des Tempels führte. Jorin beobachtete wie seine Herrin mit ihren Fingerspitzen über die abgebildeten Figuren und Szenen strich und damit dunkel klingende Worte murmelte. Dann sprang die Tür auf. Schweigend schob In'Ahte'Fah das steinerne Portal auf.
Die Halle in der sie sich nun befanden hatte gigantische Ausmaße und erstreckte sich weit gen Himmel. Der Raum war fast vollkommen leer. Bis auf ein einziges Objekt welches das steinerne Gefängnis ausfüllte. Es war der größte Drache, den Jorin je gesehen hatte...es war ein schwarzgeschuppter Drache des großen Abgrunds, der im Tiefschlaf auf dem marmornen Boden lag.
Die Schwarze Königin wandte sich an das Geschöpf, das einmal eine Gishka war. "Liebst du mich?"
Wie immer antwortete das Wesen nicht mit dem Mund, doch seine im unheiligen Glanz des Nicht-Lebens glühenden Augen sprachen beredner als Worte. Ja, meine hohe Herrin, ich liebe dich, schwarzes Licht meiner Seele, und mein einziger Sinn und meine Freude ist es, dir zu dienen. Sage mir was ich tun soll.
"Töte für deine Herrin," sprach die Königin des Todes mit einem Lächeln, süß wie das Gift des Durhgunbusches. Ansatzlos stürmte das Wesen, das einmal eine Frau gewesen war, mit hoch erhobener Klinge auf das Ungetüm los.
Ein schuppiges Lid hob sich, ein grün-goldenes Auge mit geschlitzter Pupille erfasste blitzschnell die Szene um sich herum, dann schoss der gewaltige Schädel hervor. Kiefer groß wie ein Scheunentor erfassten das Wesen, zermalmten es, schüttelten die Reste durch und schleuderten es gegen die Wand. Was zu Boden fiel hatte keine Ähnlichkeit mehr mit irgend etwas.
"Ich grüße dich, Prachtvoller," flötete die Königin und machte einen neckischen Knicks. "War dein Schlaf erholsam? Falls nicht, dann gräme dich nicht. Bald wirst du schlafen bis Himmel und Erde vergehen."
Der gewaltige Drachenherrscher wollte dieser Vermessenen gerade die gebührende Antwort erteilen, als er die machtvolle Präsenz spürte, die in sein Domizil eingedrungen war. Er war beeindruckt, doch keinesfalls eingeschüchtert. Doch da war noch etwas, das Fehlen von etwas das da sein sollte, es aber nicht war. Etwas, dessen Nichtvorhandensein ihm ein Gefühl vermittelte, dessen er sich nicht sicher war, weil er es noch niemals zuvor verspürte: bodenlose Angst. Er sah auf das Geschöpf, das sich vor ihm im gloriosen Nimbus von schwärzester Verzweiflung und Eiseskälte rekelte und begriff...
"DER BEWAHRER! DU HAST IHN GETÖTET!"
"Wie es meine Verpflichtung, meine Freude und mein Privileg ist," lachte In `Athe`Fah mit gurrendem Ton.
"WAHNSINNIGE! WER DEN BEWAHRER TÖTET, TÖTET DAS LAND! MEIN LAND!" Das gewaltige Maul öffnete sich erneut, und ein Meer aus Flammen schoß hervor. Der Mann ohne Namen ergriff entsetzt die Hand der Königin, doch sie schüttelte ihn wie ein lästiges Insekt fort. Dann verebbten die Flammen, und Königin wie Mann standen unversehrt dort, wo sie waren.
"Ich entscheide hier, wer lebt und wer stirbt," stellte die Königin der Nacht nachdrücklich fest, und die Drohung wurde verstanden.
"UND WIE WILLST DU DIES ANSTELLEN, KLEINES WESEN? IHR SANDTET HEERE GEGEN MICH, UND ALLE VERBLUTETEN IN IHREN EISERNEN SCHALEN. MAGIER WOBEN IHRE LEUCHTENDEN MACHTNETZE GEGEN MICH, UND SIE VERBRANNTEN ZU MEINER LUST VOR MIR. WELCHE WAFFE WILLST DU GEGEN MICH EINSETZEN?"
"Eine, die alles und jeden erschlägt; den Menschen, den Baum, den Fels, selbst die Götter an ihrem Ende. Als Meisterin des Schicksals bin ich auch die Meisterin über die Zeit!" Und sie bedachte den gewaltigen Drachen mit all den flüchtigen Augenblicken, aus denen die Äonen der Ewigkeit zusammengesetzt sind. Das ehrfurchtgebietende Wesen fuhr zusammen, als habe es einen gewaltigen Schlag erhalten. Die schimmernden schwarzen Schuppen nahmen einen gräulichen Ton an, die in unbegreiflicher Majestät leuchtenden Augen wurden glanzlos und matt, die herausfordernd ausgestreckten Flügel sanken kraftlos herab. Unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte machte der Drache einen letzten stolpernden Schritt nach vorn, schnappte nach diesem kleinen Wesen, von dem eine solch unglaubliche Macht ausging, und zermahlte es zwischen seinen Kiefern, und danach erloschen die Augen für immer.
Der Mann ohne Namen wußte irgendwie, dass alles nun gut war und er sich nicht zu sorgen brauchte. Niemand würde hier sterben, wenn die Herrin es nicht erlaubte!
Da ging ein Ruck durch den gewaltigen Leib des Drachen, die Augen öffneten sich, doch anstatt in königlichem Gold strahlten sie nun im Un-Glanz des Nicht-Lebens. Das gigantische Wesen kam erneut auf die Beine, reckte den Kopf weit in die Höhe und breitete die Schwingen erneut aus.
"SIEH AUF DEINE KÖNIGIN, WURM! ADRIELLE GAB MIR EINEN LIEBREIZENDEN LEIB, DOCH DIESER IST STARK! SO JENSEITS ALLEN BEGREIFENS STARK!"
"Ja, Herrin, du wohnst nun deiner angemessen!"
In`Athe`Fah lächelte ein zähnestarrendes Drachenlächeln und wünschte sich, sie hätte eine Narrenkappe dabei.
"STEIG AUF!", befahl sie und streckte dem Mann ohne Namen ihren Schwanz hin. Eilig begann er den Rücken des Drachen zu erklimmen: "Was habt ihr vor, Herrin? Wie wollt ihr hier herauskommen?"
"DAS WIRST DU GLEICH SEHEN!", sie schlug mit ihren Flügeln auf und ab und sauste der Tempeldecke entgegen. Dann wurde der Stein unter der Kraft ihres Schädels zerschmettert. Felsbrocken flogen an Ihnen vorüber und In'Ahte'Fah stieg in den Morgenhimmel auf. Als der Drache Gerrics Hof erreichte, öffnete sich sein Maul und Haus wie Ställe wurden binnen weniger Augenblicke in ein weißes Inferno verwandelt...

Nortia schrie auf. Sie wollte ihre Augen öffnen, doch waren diese von einer zähflüssigen, gelben Substanz verkleistert, welche sich in Fäden zwischen ihren Augenlidern spannten. Ihr Sichtfeld war seltsam rötlich verschwommen. Im Hintergrund ertönten die Stimmen der Skriggheilerinnen. Ihr sich aufbäumender Körper wurde nach unten gedrückt, stickige Dämpfe drangen ihr in die Lunge, sodass sie einen Hustenkrampf bekam und weißgrünlichen Speichel ausspuckte. Brüllend wand sie sich in den Fesseln, die diese Kreaturen ihr angelegt hatten, doch sie gaben einfach nicht nach. Ihre Augen brannten von der klebrigen Substanz und sie schloss wieder ihre Lider. Der Schmerz und die Aggression ließen nicht nach. Sie wollte ihre Bewacher in Stücke reißen und ihre Leichname verstümmeln. Doch Nortia konnte sich der Hände nicht erwehren, die sie gegen den nackten Fels pressten. Skriggstimmen redeten auf sie ein, sie vermeinte auch Esterlars Stimme zu hören, doch dessen war sie sich nicht sicher. Kalter Schweiß rann ihr über den Körper, als Nortias Kräfte nachzulassen begannen. Dann sackte sie endlich mit wundgeriebenen Handgelenken und gestoßenem Rückgrat in sich zusammen und verlor das Bewusstsein...
Ein Eimer eisigen Wassers traf sie ins Gesicht. Blinzend öffnete Nortia die schweren Lider, an denen immer noch Reste der gelblichen Flüssigkeit klebten. Vor sich konnte sie neben einigen Heilerinnen auch Esterlar erkennen. Ihre Sinne hatten sie also während des Anfalls nicht getäuscht. Eine der Skriggfrauen bleckte die Zähne und sagte etwas. Nortia schüttelte schwach den Kopf. So langsam sollten diese Wesen doch begreifen, dass sie sie nicht verstand. Doch dann antwortete zu ihrer Überraschung Esterlar: "Egrlla sagt, dass es gut um dich steht. Sie sagt, dass dies dein erster Anfall nach drei Tagen ist!"
Nortia krächzte etwas Unverständliches. Esterlar blickte sie fragend an. "Du verstehst sie?", fragte Nortia, diesesmal deutlicher. Der Dauphin nickte: "Esluhvresh bringt mir die Skriggsprache bei, arrngr bragr?" Er grinste.
Nortia versuchte sich aufzurichten, was in den Fesseln nur schwerlich möglich war. "Wie lange sind wir schon hier?" Esterlar zuckte mit den Schultern: "Seit wir im Unterreich angekommen sind, ist wohl etwa eine Woche vergangen. Yorgums Arm ist inzwischen übrigens gut verheilt: Rassmire hat deine Arbeit gelobt!"
Nortia stöhnte: "Esterlar, du musst mich hier herausbringen! Ich halte das nicht mehr lange aus!" Sie blickte ihn flehentlich an.
"Du hast immer noch Anfälle, Nortia! Warte noch etwa eine Woche, dann können wir das Unterreich verlassen. Aber im Moment bist du eine Gefahr für dich selbst und Auch für alle anderen!"
Als Nortia nichts mehr sagte, verließ Esterlar sie, um nach Yorgum zu sehen.
"Verbrenne!" keuchte Nortia ihm nach und konnte es nicht fassen, dass sie tatsächlich wie ein kleines Mädchen schluchzte. Zwei Skriggfrauen kamen zu ihr, sie hatten zusammengewickelte Blätter bei sich, in welchen sie ihre Salben transportierten. Nortia hasste beide inbrünstig. Warum konnten sie sich nicht um sich selber kümmern? fragte sie sich. Die eine war schwanger und bei der anderen stimmte etwas mit der Galle nicht...
Sie stutzte. Woher wusste sie dies? Doch es gab keinen Zweifel, der Geruch der beiden verriet es...
DER GERUCH! Aber wie war das möglich? Das Tier war fort, sie dürfte nicht...
Und in diesem Augenblick, als Hass und Verwunderung miteinander kollidierten, vollzog sich unkontrolliert die Verwandlung.
Schwarzes Fell begann unkontrolliert aus ihrem Fleisch hervorzuwuchern. Krallen entwuchsen ihren Fingern und sie zerriss mit einem einzigem kräftigem Ruck ihre Fesseln. Im Blutwahn stürzte Nortia auf die beiden Heilerinnen zu, die das Weite zu suchen versuchten. Sie kamen keine zwei Schritt weit.
Die Erste von Ihnen wurde von dem Tier einfach zu Boden geschleudert, der Zweiten sprang der Werwolf an die Kehle und biss sie durch. heißes Blut floss in Nortias Maul und stärkte sie, während der rotfellige Torso der Skrigg trotzig mehrere Schritte rückwärts taumelte, bis er mit feuchtem Klatschen auf dem Höhlengrund aufprallte. Nortia hetzte voran. Sie konnte ihre Sinne nicht beherrschen, der Wolf hatte ganz und gar die Kontrolle über sie gewonnen. Rasend hetzte sie mit wässrigem Maul über bemooste Stein und überrannte im Weg stehende Schakalsmenschen einfach. Einer von Ihnen stellte sich ihr in den Weg. Mit wahnsinnig funkelnden Augen wollte er sie mit der Streitaxt erschlagen und anschließend ihre Leiche solange verstümmeln, bis das ursprüngliche Wesen nicht mehr erkennbar war. Doch der Schlag kam viel zu langsam. Sie zerfetzte seinen Körper, noch während er ausholte.
Sie war das Tier.
Sie rannte schneller. Ihre Krallen gruben Furchen in den Fels. Sie jagte über die Seitenwände der höhle entlang. Heilerinnen sprangen ihr aus dem Weg. Sie hörte Esluhvresh etwas brüllen. Der Weise schleuderte seinen Stab nach ihr, was völlig unsinnig war. Der Stab verwandelte sich in einen Speer. Der Speer schlug über ihrem Schädel ein. Sie hatte sich weggeduckt. Sie rannte auf den Alten zu. Sein Fleisch musste zäh schmecken, doch er hatte sie angegriffen. Sie war schnell. In wenigen Augenblicken hatte sie sich bis auf zehn Schritte genähert. Dreeinhalb Wolfssprünge. Doch dann warfen sich Leiber zwischen sie und den Alten: Krieger und auch Heilerinnen, die den Weisen mit Einsatz ihres Lebens verteidigen wollten. Nachdem sie den Ersten totgebissen hatte, merkte sie, dass es zu viele waren. Sie hätte alle getötet, doch in den Zwischenzeit würden Neue herbeikommen, die besser vorbereitet waren und Esluhvresh geflohen. Sie ließ ihn also am Leben und rannte weiter. Irgendwo musste der Ausgang aus diesem rauch- und giftverhangenem Krankentrakt sein, der ihren Körper verpestete.
Sie war das Tier.
Der Werwolf erkannte die leuchtenden Pilze. Dort war der Ausgang. Er hetzte hinüber. Vierbeinig oder zweibeinig- es spielte keine Rolle. sie sah Esterlar. Eine kleine, dreckige Made, die sie mit einem Fingerstoß zerquetschen konnte. Ein Teil von Nortia sträubte sich gegen die Bluttat. Der Werwolf rannte weiter, ließ den Dauphin hilflos schreiend zurück. Das Menschenleben interessierte ihn ohnehin wenig.
Sie war das Tier.
Nun sah sie mehrere Wachen, die sich gegen sie stellten. Bewaffnet mit Schilden, Speeren und Äxten. Wobei Letztere sie wenig interessierten. Die stacheligen Speere, umso mehr. Ein kleiner Fehler und ihr schlaffer Körper würde wie ein bizarren Fahnenmast, an einem der Enden baumeln. Trotzdem entschied sie sich für die frontale Offensive. sie hatte Esterlar und Esluhvresh verschont. es war an der Zeit anzugreifen. Insgesamt waren es vier Skrigg, die sich ihr in dem Höhlengang entgegenstellten. Zwei Äxte, zwei Speere. sie unterschätze die Axtschwinger. Zumindest einen von Ihnen: Er ließ das Kampfinstrument über seinem hässlichen Schädel kreisen, wobei er die Namen seiner achtzehn Todesgötter ausrief- dann ließ er los. Diesesmal war die Wurfwaffe schnell. Fast zu schnell für Nortia. reflexartig drückte sie ihren Wolfskopf nach unten, doch die Klinge schlug eine Wunde. ein großer Teil ihres rechten Ohres wurde von der Axt mitgeschleift in einem sprühendem Bogen aus Blutperlen. Sie musste ihn töten. Brüllend raste ein Naturgewalt aus Fell und Zähnen auf den Wall aus Skrigg zu und krachte in dessen Zentrum. Der Axtkämpfer verging als verstümmelter Kadaver, der benachbarte Speerkrieger hatte nur noch ein Bein und fiel auf seinen Genossen, was diesen behinderte. Der Werwolf erlegte den zweiten Axtprügler. Der letzte verbliebene Kampffähige stellte sich ihr entgegen und stieß mit dem tödlich spitzen Speer zu. Sie wich aus, biss ihm die Hände ab. Zerfetzte seine Kehle. Sie stürmte über die Leichen hinweg.
Sie war das Tier.
Nortia rannte in die Tiefen des Höhlensystems hinein. Ihre Sinne waren so stark wie niemals zuvor. Sie erkannte die wochenalten Spuren, die ihre menschliche Hülle auf dem Weg hinterlassen hatte. Sie folgte diesen. Sie rannte einen Tag und eine Nacht. Das Erste unterschied sich nicht vom Zweiten. Doch ihre Wolfsaugen konnten sehen. Sie konnte riechen.
Sie war das Tier.
Und das Tier wusste nur eines: es wollte leben!
Dunkel erinnerte es sich an den Versuch, es für immer auszulöschen, und fast wäre dies auch gelungen. Es verstand nicht, warum es sterben sollte, doch es wusste sehr genau dass es dies niemals zulassen würde. Tief hatte es sich in seinem fleischlichen Kerker zurückgezogen, verwundet und gedemütigt, doch nur um so wachsamer und beißbereiter. Es fühlte instinktiv, dass es seine verbliebenen Kräfte schonen musste, und wartete geduldig auf seinen Moment. Diesen fand es in einem schwachen Moment ihrer Kerkermeisterin, als diese schon von seinem Tod überzeugt war und leichtsinnig ihre Rüstung fallen ließ.
Es war das Tier. Und das Tier triumphierte. Immer!
Der lange Stollen endete in einem hellen Rechteck. Mit einem Satz sprang es hindurch und fand sich in einem demolierten Raum wieder. Überall roch es nach altem Blut und Tod. Doch auch ein anderer Geruch war dort, lebendig.
Eine Menge Unrat wurde nach oben gedrückt, als die seltsame Gestalt sich unter der Müllschicht erhob. Ein rastloses Auge versuchte es zu fixieren, das andere war fest zugedrückt. Lange braune Zähne bleckten in einem schmutzigblonden Gestrüpp. Die klapperdürre Gestalt erhob sich wie eine Marionette, die man an ihren Fäden in die Höhe zog.
Das Tier war sich unschlüssig, was es mit diesem Wesen anfangen sollte. Es war ohne Zweifel lebendig, doch es roch weder nach Furcht noch Angriffslust; die üblichen Reaktionen der Zweibeiner bei seinem Anblick. Das Tier war satt, und seine Neugier war geweckt worden.
"Bischt tu prächtich!" gab das Wesen von sich und betrachtete es wohlgefällig. Es machte eine beruhigende Geste mit der Hand. "Fürchte nischts. Fürchte nischts. Fürchte nischts..." Das Tier zuckte zusammen. Es hatte den Geruch endlich erkannt. Es war der eines gefährlich verwirrten Geistes.
Der Verrückte griff blitzschnell unter seinen dreckstarrenden Mantel, holte ein Faustrohr hervor und kreischte: "Denn isch bin nischts, unn misch sollscht du fürschten!"
Er feuerte die Waffe ab. Die Bleikugel war schneller als Esluhvreshs Speer, schneller als die geworfene Axt. Sie traf den Wolfsleib mitten in die Brust. Das Geschoss eines Handrohrs, der ersten tragbaren avalischen Schusswaffe vermochte auf hundert Schritt Entfernung einen Mann mit Rüstung zu töten. Der Werwolf wurde von der Wucht zu Boden geworfen. Blut strömte aus der geschlagenen Wunde. Das Leben selbst war es das aus Nortias verwandeltem Leib herausfloss. Sie/Das Tier spürte wie ihre/seine Kräfte schwanden. Die Sichtränder begannen sich schwarz zu verfärben...
Kreischen hüpfte der Greis zu der sterbenden Bestie herüber. Es dauerte zu lange, um das Handrohr ein weiteres Mal zu laden. Stattdessen packte er mit der Rechten sein rostiges Jagdmesser, dass so lang war, wie sein Unterarm. Er stach zu. Ein grausiger Schrei ertönte. Dann umfasste der Greis schreiend den Stumpf seiner abgebissenen Hand, aus dem im Rythmus seines Herzschlags sein Lebenswasser hervorgepumpt wurde. Langsam erhob sich das Tier. Der Wolf bleckte die scharfen Dolchzähne und erhob sich auf zwei Beine. Der entsetzte Blick des Alten blieb an der Wunde hängen. Nur noch ein schwaches Rinnsal bahnte sich seinen Weg durch das blutverkrustete Fell. "Höllenkreatur!", schnaubte er. "Arull soll dich..." Schon war er nur noch ein zuckender Leichnam. Das Tier hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie ihre Verwundung überleben und sich selbst so schnell regenerieren konnte. Doch es war ihr egal.
Denn sie war das Tier. Sie war das Chaos.
Der Werwolf durchpflügte die verwüsteten Gassen und stürmte unter Armbolzenregen hindurch. Er rannte immer weiter. Donnerte durch das Stadttor, ehe das Fallgitter hinter ihr herabsauste und die Verfolger behinderte. Nortia rannte immer weiter nur von ihrem Instinkt geleitet. Sie wusste, wohin diese Straße sie führte. Sie musste zu ihrem Rudel kommen, zu ihrem Vater Aulus, den Blutwolf, der ihre Mutter damals im Wald der Cappas vergewaltigt hatte. Um eine Tochter zu zeugen mit dem Erbe beider Rassen in sich. Nur dort so wusste das Tier konnte es erfahren, wer es wirklich war...
Doch fürs Erste genoss es die neugefundene Freiheit der weiten Welt, die es willkommen hieß. Nichts war hier eingeengt oder roch widernatürlich. Es sprang ausgelassen umher, jagte ein Rudel Fliccas nur so zum Spaß (wirklich eklige kleine Burschen, aber sie quiekten lustig), fing eine fliegende Fledermaus im Sprung und genoß sein schieres Lebendigsein in vollen Zügen.
Doch dann drang der Geruch zu ihm, den es verabscheute wie nichts sonst. Es knurrte ärgerlich, denn der Duft der Widernatürlichkeit war ihm gefolgt, hierher in die wirkliche Welt! Dies war nun sein Revier; es würde keine Schändung dulden! Bereit zu zerreissen und zu Verschlingen folgte es dem verhassten Duft.
Rasch hatte es die Quelle des üblen Geruches erreicht, doch anstatt zu springen und zu zerfleischen zog das Tier es vor, sich unter einen Strauch zu ducken und vorsichtig zu beobachten, auf eine günstige Chance zu warten: es hatte die beiden Zweibeiner sofort erkannt. Schwarz-silbern, weiblich riechend und nach Nelkenöl, mit dem sie ihre Donnerrohre pflegten. Es hatte sich sofort erinnert; so sah auch der Zweibeiner aus, der das furchtbare Weh-tut-Ding nach ihm geworfen hatte, das es wieder in seinen Fleischkerker zurückwarf. Vorsicht war angeraten.
Die beiden Zweibeiner redeten miteinander, und natürlich verstand das Tier nicht ein einziges Wort, aber es beobachtete geduldig weiter.
Eine der beiden Gishka klopfte mit der flachen Hand gegen einen gewaltigen ballonförmigen Bronzetank auf Rädern. "...und damit werden die Bastarde ausgeräuchert. Das Zeug brennt stundenlang, aber nicht das Feuer ist das wirklich Gemeine, sondern die Dämpfe, die es freisetzt. Die dringen wirklich überall durch und zerfressen jede Lunge. Also renn, wenn es knallt!"
"Und wieso werden nicht die Regulären damit beauftragt?" maulte die Jüngere und legte Holz auf dem kleinen Lagerfeuer nach. "Werden wir jetzt schon fürs Morden bezahlt? Ich würde lieber kämpfen..."
"Wieso nicht die Regulären?" äffte die Ältere spöttisch den Tonfall ihrer Kameradin nach. "Weil es vielleicht UNSERE Schwestern vom Dritten Banner waren, die spurlos in diesen verdammten Höhlen verschwunden sind! Und es UNSERE Sache ist, sie zu rächen! Und wolltest du das wirklich tetesterongebeutelten Stehpinklern überlassen, die wie die Anfänger schießen und möglicherweise die ganze Stadt unter Dampf setzen?" Sie spuckte verächtlich ins Feuer. "Du hast die erste Wache. Und die zweite. Gute Nacht."
Das Tier beobachtete lange weiter, doch der jüngere Zweibeiner ließ einfach nicht nach in seiner Wachsamkeit. Weh-tut-Ding; kreiste der Gedanke unaufhörlich in seinem einfachen Geist. Irgendwann gab es auf und trottete davon. Nur zwei Zweibeiner, doch die Welt war groß, und es entsann sich seines ursprünglichen Vorhabens.
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- Einmal Knochenmesser, immer Knochenmesser -
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