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Alt 05.08.2012, 20:31
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Hobbyschreiber Hobbyschreiber ist offline
Drachentoeter
 
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Gerade das, was Du als Negativ-Kriterium anführst, sehe ich eigentlich als Pluspunkt, Cassandra. Ein Fantasyroman oder -film kann eine wunderbare Allegorie für unsere wirkliche Welt sein, in der man alltägliche Freuden oder auch Probleme ganz neu wahrnimmt. Natürlich ist ein Straßenraub ein Straßenraub, ein Mord ein Mord, eine Revoloution eine Revolution. Aber in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen sich mit Tagespolitik, Völkerrecht oder Philosophie befassen, kann ein mitreißender Fantasy-Roman das selbe Problem aus einer ganz anderen Perspektive beleuchten.

Der Böse hat nachvollziehbare Gründe für die begangenen Völkermorde? Okay, aber es sind immer noch Völkermorde. Der Antiheld fühlt sich nicht berufen, am geplanten Umsturz teilzunehmen? Okay, das ist nachvollziehbar, oder? Aber trotzdem ist jeder, der ein Unrechtsregime nicht bekämpft, ein Mitläufer. auch wenn niemand weiß, ob es am Ende gut ausgeht. Vielleicht sieht man das Handeln, bzw Nicht-Handeln unserer Großeltern im Dritten Reich plötzlich ganz anders. Wer sagt denn, dass der Zweck die Mittel heiligt, nur weil sie von den Guten angewendet werden? Es geht um das Überleben des Volkes der xy? Na und? Wenn dadurch das Überleben des Volkes der z gefährdet wird, darf man es nicht bedenkenlos tun. Was heißt überhaupt Gut oder böse? Wie erkennt ein kleines Bauernmädchen auf der Landstraße des Lebens überhaupt, was das ist, wenn sie den Salat der Ewigkeit im Straßengraben findet, versteckt vom letzten überlebenden Jedi-Ritter?

Wer denkt schon darüber nach, ob die USA in Afghanistan um Menschenrechte oder um sichere Öl-Transportwege Krieg geführt haben? Aber wenn das mächtige Volk der x um den Stein der unendlichen Macht kämpft und dabei die kleinen, primitiven Völker der y und z gegeneinander ausspielen, deren Kultur und Religion völlig zertrampeln und am Ende in eine wirtschaftliche Abhängigkeit hinein zwingen, das ist ein Thema, über das auch heute Sechzehnjährige sich Gedanken machen.

Das eigene Volk will belogen werden, hauptsache, es hat zu essen und genug Unterhaltung? Hatten wir schon einmal, was? Wenn man jetzt mit dem alten Rom anfängt, verdrehen viele Leute die Augen. Ein Geschichtslehrer meiner Tochter hat mir mal auf einem Elternabend mit extremer Ironie in der Stimme gesagt: "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie spannend ich das Römische Reich als Thema finde!" Auf die Weise kann man Kinder auch nicht für die Gründe interessieren, die zum Untergang einer Weltmacht führen. Aber notfalls kann man das immer noch über einen Fantasy-Roman erreichen.
Ich erwähne immer wieder gerne Terry Pratchetts Aufsatz "Lasst Drachen sein" (In dem großartigen Buch "Der ganze Wahnsinn"), in dem er erklärt, warum die Menschheit durch Fantasy nicht verblödet, sondern bereichert wird. Eine dringende Empfehlung!

Geändert von Hobbyschreiber (05.08.2012 um 20:36 Uhr)
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