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Alt 08.05.2008, 23:36
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Noirin Noirin ist offline
Geschöpf der Nacht
Waldelfe
 
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DIE FLUCHT BEGINNT

So schnell sie konnten rannten sie in den Wald, getrieben von Panik und Furcht und dem Grauen, das sie eben erlebt hatten. Der Geruch von Blut und Todesangst klebte noch in ihren Nasen, und die letzten, von heillosem Entsetzen erfüllten Gedanken ihrer sterbenden Freunde hallten noch immer in ihren Köpfen.
Blind stürmten sie vorwärts, fort, nur fort von dem schrecklichen Ort, wo sie das Grausamste mit angesehen hatten, was einem denkenden, fühlenden Wesen passieren konnte: bei lebendigem Leibe geschlachtet und gefressen zu werden.
Loroh preschte voran, in Gestalt eines großen, gefleckten Ziegenbocks, setzte mühelos über Steine, Baumstämme und Gebüsch, und seine kleinen scharfen Hufe wirbelten Moos und Blätter in die Luft.
Dicht hinter ihm war Saali, und ihre schwarzen Fuchspfoten fanden auf dem weichen, unebenen Waldboden ebenso mühelos Halt wie Lorohs Hufe. Doch sie achtete kaum darauf, wohin sie trat oder wohin der große Bock sie führte. Ihre Gedanken kreisten um ihren Bruder, der tot und zerfetzt hinter ihnen auf der Lichtung lag. Niemals würde sie seinen letzten Blick vergessen können, ehe die scharfe Klinge des Tarken- Messers seine Kehle aufriss.
Ein gutes Stück hinter ihnen hastete Fillan vorwärts, einzig und allein darauf bedacht, seine beiden Freunde nicht aus den Augen zu verlieren. Er hatte die Gestalt eines prächtigen, wilden Keilers, doch diese Gestalt war nun mal nicht für den Lauf über lange Strecken gemacht. Die Stärke des riesigen Wildschweins war die Konfrontation, und davon noch eher der Angriff als die Verteidigung, doch Angreifen war das Einzige, was gegen die grausamen Tarken nicht möglich war. Und so floh er mit den anderen beiden, während seine tierische Seele sich gegen das Fortlaufen auflehnte und nach Kampf schrie.
Verfolgen sie uns?
Saalis Frage war der erste Gedanke, den sie austauschten, seit der eine große Tarken auf der Lichtung erschienen war, seine Artgenossen niedergemetzelt und den Käfig zerstört hatte.
Sie sind doch alle tot, sendete Loroh, dann fragte er verunsichert: oder etwa nicht?
Fillan, um einiges älter als die anderen beiden, und um einige Erfahrungen reicher, hatte sich darüber schon seine Gedanken gemacht.
Das waren nur drei, antwortete er. Unser Dorf wurde von viel mehr überfallen.
Saalis Reaktion darauf wäre mit ihrer echten Stimme wahrscheinlich ein entsetztes Quietschen gewesen. Was sollen wir tun?
Zum Dorf der Kara’Daz laufen, sagte Loroh. Wie der Tarken es gesagt hat. Welcher war das überhaupt? Sie sehen sich alle so schrecklich ähnlich.
Fillan war sich auch nicht ganz sicher. Trotzdem versuchte er, zuversichtlich zu klingen: Ich glaube, das war einer der Krieger, Kades'Kur.
Dann wollen wir ihm etwa trauen? erkundigte sich Saali zaghaft.
Tarken können uns am besten vor Tarken beschützen, meinte Fillan.
Von Saali kam erneut ein telepathischer Aufschrei. Wie vor eine Wand geprallt blieb sie stehen. Fillan konnte im letzten Moment ausweichen und verhindern, dass er sie niedertrampelte.
Was soll das denn? fragte er sich aufgebracht.
Loroh hatte kehrt gemacht und trabte zu ihnen zurück.
Was ist mit unserem Dorf? schrie Saali auf. Mit unseren Familien?
Betroffen sahen sich die anderen beiden an. Diese Frage war ihnen bisher gar nicht in den Sinn gekommen.
Keine Sorge, tröstete Fillan, wir können bestimmt…
Ein Geräusch, noch weit entfernt, ließ ihn verstummen.
Was war das? Saali flüsterte vor Schreck, sogar in Gedanken.
Wir dürfen nicht stehen bleiben, drängte Loroh. Wir müssen weiter.
Wo lang geht es zum Dorf der Kara’Daz? überlegte Fillan und sah sich eilig um. Nur am Rande bemerkte er dabei, dass ein paar dünne Nebelschleier zwischen den Bäumen aufgezogen waren.
Ich will nicht zu diesen Bestien, schrie Saali plötzlich so laut, dass die beiden anderen zusammenzuckten. Sie haben Pala ermordet.
Doch nicht die Kara’Daz, versuchte Fillan sie zu beruhigen. Das waren andere Tarken.
Ein heiserer, kehliger Ruf, diesmal näher, ließ alle drei herumfahren.
Da sind sie, der Rest von denen, stöhnte Fillan auf. Weg hier!
Eilig setzten sie sich wieder in Bewegung, Loroh voraus, dann Saali, und Fillan machte den Abschluss.
Furcht kroch erneut in ihm hoch, und er konnte spüren, dass es den anderen beiden ebenso ging.
Der Nebel wurde langsam dichter, und Loroh an der Spitze rannte instinktiv in die Richtung, wo die Nebelschwaden noch dünn und durchsichtig waren. Fillan wollte ihm zurufen, dass das weder die Richtung zum Dorf der befreundeten Tarken noch die zu ihrem eigenen Dorf war, doch er verzichtete darauf. Ganz plötzlich hatte er den Gedanken, dass ihre Verfolger sie am Leichtesten in dem Nebel verlieren würden, wenn sie in eine Richtung flohen, die die Jäger nicht vermuteten.
Der Nebel vertrieb die stickige Hitze des Tages, die sich zwischen den Bäumen gesammelt hatte, und die Kühle erleichterte ihnen das Laufen. Trotzdem waren Fillan die silbrigen Schwaden unheimlich.
Der Nebel trug Geräusche weit und verzerrte sie, und so konnten die Flüchtenden ihre Verfolger zwar hören, aber beim besten Willen nicht einschätzen, wie weit die Tarken von ihnen entfernt waren.
Sie liefen und liefen, immer dorthin, wo der Nebel am dünnsten zu sein schien.
Langsam wurden die Geräusche der Jäger hinter ihnen leiser und verstummten schließlich ganz. Trotzdem blieben sie noch lange nicht stehen, sondern eilten weiter durch den Nebel.
Als dieser sich schließlich vor ihnen lichtete und kurz darauf sogar ganz hinter ihnen zurückblieb, hielten sie alle drei den Atem an, angesichts des Anblicks, der sich ihnen bot.

*****
Es war ein eigenartiger Zug aus zierlichen, menschenähnlichen Wesen und den unterschiedlichsten Tieren, der sich eilig aber halbwegs geordnet seinen Weg durch den Wald suchte.
Nuális ließ ihren Blick über die traurigen Gesichter ihres Volkes schweifen, und das Herz wurde ihr schwer. Da waren sie nun, Flüchtlinge, ohne Heimat, ohne Sicherheit, nur mit der notwendigsten Habe unterwegs ins Ungewisse.
Manche der Ainmil’Anahm hatten ihre Seelengestalt angenommen, besonders jene, die große, kräftige Tiere als Gestalt hatten, und diese trugen nun die Kinder, die Alten und die wenigen Habseligkeiten ihrer Schwestern und Brüder. Einige der Vogelseelen umkreisten den Zug und spähten umher, um Gefahren und Fallen frühzeitig zu bemerken.
Nuális’ Blick wanderte zu Marla, die zusammengesunken auf dem breiten, glänzenden Rücken von Ryan kauerte, und tiefes Mitleid erfüllte sie. In ihren zitternden Händen hielt Marla ein winziges, rötliches Fellknäuel geborgen, ihre jüngste Tochter, die sich im Schlaf in ein flauschiges Fuchsjunges verwandelt hatte. Und die nun wahrscheinlich als Einzige von Marlas Familie noch übrig war. Marlas Sohn und Tochter, Pala und Saali, waren von den Tarken verschleppt worden, und Marlas Gefährte war bei dem Versuch gestorben, seine Kinder vor den Tarken zu beschützen.
Es tat weh, an die toten und Verschleppten zu denken, die jetzt, in diesem Moment, wohl auch längst ein grausames und blutiges Ende gefunden hatten.
Vorn, an der Spitze des Zuges, ging ihr Vater, stolz und aufrecht in seiner Körpergestalt, neben ihm trottete Lysior elegant und wachsam in seiner wölfischen Seelengestalt. Noch immer hatte Nuális die heftige Diskussion der beiden im Ohr, als es darum ging, wohin sich die Ainmil’Anahm auf ihrer Flucht wenden sollten. Ihr Vater hatte einen Marsch gen Norden in die Berge, zu ihren Handelspartnern, den Amon’Har beschlossen, und Lysior hatte vehement protestiert. Viele Argumente hatte er angeführt, angefangen damit, dass sich die Ainmil’Anahm nicht einfach vertreiben lassen dürften, gefolgt davon, dass die Kara’Daz sie bestimmt beschützen würden, und schließlich hatte er gewarnt, dass ihr Weg in die Berge sie viel zu dicht an den Fango- Sümpfen vorbeiführen würde, was gerade in dieser Jahreszeit sehr, sehr gefährlich war.
Doch Nuális’ Vater hatte sich nicht beirren lassen, und so hatte sich das ganze Dorf, beziehungsweise das, was davon übrig war, auf den Weg zu den Amon’Har gemacht, hinauf in die Kälte der Berge. Nuális konnte selbst in Lysiors Wolfsgesicht noch lesen, wie sehr der junge Mann schmollte.
Dünne Nebelfäden schlängelten sich zwischen den Bäumen heran. Überrascht löste Nuális ihren Blick von ihrem Volk und sah sich um.
Sie wanderten am Fuß eines recht steilen Hanges entlang, dessen Flanke dicht von hüfthohem Gebüsch und riesigen Farnen bewachsen war. Oben auf dem Kamm des Hanges erhoben sich wieder die vertrauten, massigen Umrisse der Baumriesen, die überall hier im Wald wuchsen. Der dichte Nebel, der dort oben hing, ließ die alten Bäume wie drohende, sich bewegende Schatten aussehen. Lange Nebelfäden krochen zwischen den Sträuchern und Farnen den Hang hinab, fast bis zu den Flüchtlingen hinunter, und bildeten ein eigenartiges Muster in dem satten Grün der Pflanzen.
Die junge Frau kniff angestrengt die Augen zusammen und starrte konzentriert hinauf zu der dunklen Front der Bäume. Tatsächlich schienen sich diese zu bewegen. Nuális Herz krampfte sich erschrocken zusammen, als sich die Bewegung, die sie beim ersten mal mehr geahnt als gesehen hatte, noch einmal wiederholte.
Achtung! Vorsicht!
Ihr Alarmschrei gellte durch die Gedanken aller Ainmil’Anahm, und der Zug der Flüchtlinge kam zum Stillstand. Jene, die eine kampfkräftige Seelengestalt ihr eigen nannten, wie Bären, Wölfe, Hunde, große Katzen oder auch Wildschweine oder Raubvögel, verwandelten sich und nahmen um die anderen herum Aufstellung.
Gegen eine Horde blutrünstiger Tarken war das eine lächerliche Maßnahme, aber keiner der Flüchtlinge wollte sich ohne Gegenwehr abschlachten lassen.
„Saali!“ Marlas Aufschrei gellte durch den Wald und wurde von den Nebelschleiern zwischen den Büschen verzerrt und zurückgeworfen.
„Mutter“, antwortete eine sich überschlagende Mädchenstimme vom Kamm des Hanges aus. Und im nächsten Moment raste Saali den Hang herunter, in ihrer Körpergestalt, und so schnell sie ihre Beine trugen.
Zwei weitere Gestalten lösten sich aus dem nebeligen Schatten der Bäume, ein großer Ziegenblock und ein kräftiger, kleingewachsener Mann. Während auch sie den Hang hinunter eilten, verwandelte sich auch Loroh.
Die Ainmil’Anahm am Fuß des Hanges verfolgten die Ereignisse starr vor Staunen und Überraschung. Dann sickerte langsam die Erkenntnis in ihre Gedanken, und erste Jubelrufe wurden laut. Als Saali ihre Mutter erreichte und ihr mit einem Schluchzen in die Arme fiel, hatte auch der letzte der Flüchtlinge begriffen, dass diese drei den Tarken entkommen und einem grausamen Tod entgangen waren.
Nuális drängte sich durch die jubelnde, lachende und tanzende Menge, hin zu ihrem Vater weiter vorn. Im Vorbeigehen hörte sie, wie Saali ihrer Mutter vom furchtbaren Tod ihres Bruder berichtete und vernahm Marlas gequältes Aufschluchzen, dann hatte sie ihren Vater fast erreicht, der eben Fillan und Loroh begrüßt hatte und sich nun offenbar berichten ließ, was geschehen war.
„Und ob du es nun glaubst oder nicht“, sagte Fillan eben, als Nuális die Männer erreichte, „der Nebel hat uns genau hierher zu euch geführt.“

Geändert von Noirin (08.05.2008 um 23:38 Uhr)
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