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Alt 07.10.2012, 17:36
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Nephthys Nephthys ist offline
Bewahrer des Friedens
 
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Lektorat - eine Betrachtung aus beiden Perspektiven

Mit diesem Thread möchte ich mir einmal ein paar Gedankengänge und - ja, auch Ärger - von der Seele schreiben. Es steht euch selbstverständlich frei, anderer Meinung zu sein oder mich gar zu steinigen. Aber bitte, bitte, lest vorher alles sorgfältig durch.

Vielen Dank schon einmal im Vorraus.


Mal ehrlich:
Habt ihr schon einmal einen Text verfasst? Fandet ihr ihn einfach spitzenmäßig? Einfach aus dem Grund, weil er spitzenmäßig sein musste, denn ihr habt ihn mit Herzblut geschrieben?

Ich gebe euch recht: Ihr habt euer Herzblut in den Text gelegt. Ich weiß das, denn ich habe das auch schon oft gemacht.

Aber spitzenmäßig?

So leid es mir tut: das ist er nicht.

Und das kann ich sagen, obwohl ich ihn nicht einmal kenne.

Denn - auch das weiß ich aus eigener Erfahung - er enthält Fehler. Sei es Orthographie, sei es Interpunktion, sei es Grammatik oder Semantik. Wenn ihr gut seid (oder einfach Glück hattet), dann sind euch zumindest keine groben Patzer in der Logik oder dem Spannungbogen unterlaufen.

Dennoch: jetzt ist es an der Zeit, sich mit dem Text auseinander zu setzen. Ihn zu lesen. Fehler zu finden. Sie zu vernichten.

Was ihr dafür als erstes machen solltet?

Steckt das Manuskript in eine Schublade. Schließt sie ab. Werft den Schlüssel weg. Naja, legt den Schlüssel weg.

Vergesst, was ihr geschrieben habt, was ihr sagen wolltet.

Denn das was ihr sagen wolltet, habt ihr ganz sicher nicht geschrieben!

Es kann sein, dass ihr nach einigen Wochen gar nicht mehr versteht, was da steht. Wie soll es jemand anderes verstehen können?

Nach ein paar Wochen pustet ihr den Staub von eurem Manuskript und lest es durch. Jagt die Rechtschreibkontrolle drüber, schmeißt Grammatikfehler raus. Streicht alles weg, was sinnlos ist (und sei es noch so schön formuliert). Wenn ihr das gemacht habt, dann ...

... dann kommt das Schwerste: Ihr braucht Unterstützung.

Und das ist hart.

Denn jetzt werdet ihr euren Schatz an jemanden weitergeben, der ihn lesen wird. Und ihr? Ihr könnt nichts weiter machen als abzuwarten, und zu hoffen, dass euer Text nicht in der Luft zerissen wird.

Wenn ihr gelobhudelt werden möchtet, dann gebt euren Text an Freunde oder Verwandte. Die werden sagen, dass eure Geschichte große Klasse ist. Und Ihr werdet euch prima fühlen.

Sofern ihr verdrängt, was offensichtlich ist: eure Freunde wollen euch nicht wehtun. Also könnt ihr zu keiner Zeit wissen, ob ihr angeschwindelt werdet oder nicht.

Nun - ich für meinen Fall habe das Glück, dass mein Vater eine ehrliche Haut ist. Ich hatte ihm vor Jahren meine ersten Versuche im Fantasygenre zu lesen gegeben. Ich war stolz wie Osakar. Irgendwann hatte ich ihn gefragt, was er davon halte. Seine Antwort war: "du weißt doch, dass ich mit Fantasy nichts anfangen kann. Ich brauche Realismus." In meinen Augen ist das eine sehr höfliche Umschreibung für "Äääääh, Murks." Auch wenn ich ich weiß, dass er keine Fantasy mag, weiß ich genaus gut, dass er zumindest entscheiden kann, ob ein Texte einigermaßen lesbar ist. Er hat aufgehört sich durch die Buchstaben zu kämpfen. Und das ist ein deutliches Statement - bin ich immerhin seine Tochter.

Nun. Somit wusste ich zwar, dass da was in Argen liegt, aber noch lange nicht was. Denn das ist die Kunst:
Ihr braucht jemanden, der
a) ehrlich ist und
b) bereit dazu, seine Freizeit zu opfern um euch zu helfen.

Und mit Hilfe meine ich nicht ein nettes "ooooh, toooooller Text. Hat mir suuuuupiduuuupi gefallen, echt jetzt."

So jemanden könnt ihr als guten Freund bezeichnen - aber nicht als Hilfe für euren Text.

Ihr braucht jemanden, der sich das Manuskript ansieht und sagt: "Tjoah, also ... ähh ... die Idee, weißt du? Die Idee ... die ist super ... und die Protagonisten, joah ... auch nett. Aber ..."

Nach diesem "aber" sollte jetzt eine lange, lange Liste kommen mit Dingen, die nicht gepasst haben.

Und ihr werdet es hassen(!), dass jemand die Unverfrorenheit hat, diese lächerlichen Kleinigkeiten aufzuzählen, die doch nun wirklich nichts mit eurer schönen Idee zu tun haben. Diesen lächerlichen Kleinkram kann man doch getrost vergessen ...!

Nein!

Kann man nicht!


Denn: je länger die Liste, desto wertvoller ist dieser Mensch für euren Text. Die Länge der Liste hat erst einmal nichts mir eurer Befähigung zu tun, ob ihr schreiben könnt oder nicht. Die Länge hat etwas damit zu tun, wo der Feinschliff fehlt. Seht euer Manuskript als Rohdiamanten (herrje! Was für ein abgedroschener Vergleich ...), der geschliffen wird. Je mehr "Gemecker", desto mehr "Poliermittel".

Wisst ihr, was wirklich bedenklich wäre?

Wenn ein solcher Mensch, der wirklich achtsam mit Ihrem Text umgehen könnte, schlicht sagt: "Jo, des passt scho."

Denn dann hat er kein Interesse. Im schlimmsten Fall, weil er kein Potential in eurem Text sieht. (oder eure letzte Reaktion auf die Korrektur noch deutlich im Ohr / vor Augen hat.)

Also: beißt die Zähne zusammen. Ertragt die Trauer, die Wut, den Ärger über die Fehler und die Vorschläge. Seht euren Text nur als das, was er ist: Buchstaben auf dem (virtuellen) Papier. Löst euch emotional ein Stück weit.

Ich verspreche hoch und heilig: wenn ihr das erste Mal eine Korrektur "überlebt" habt, dann erkennt ihr wie wertvoll jeder einzelne Tipp sein kann. (Und hey: ihr müsst ja nicht alles übernehmen.)

Soweit das ganze aus der Sicht des Jungautoren.

...

Jetzt wechsel ich die Seite.

Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Studenten ausgebildet hatte? Jaa, ich war Dozentin! Dabei habe ich meine ersten Erfahrungen damit sammeln könnten, wie es ist, eine zeternde, heulende Meute vor sich stehen zu haben, die gar nicht verstehen kann, wieso das Protokoll knallrot zurückgekommen ist.

Glaubt mir: das ist kein Vergnügen. Da hilft nur: Augen zu und durch.

Die Protokolle waren falsch. Punkt. Aus. Basta. Und ich habe das getan, was damals (glücklicherweise) auch mit meinen Protokollen gemacht wurde: ich habe sie zerpflückt. Jeder Dozent, der sich während meines Studiums diese Mühe gemacht hat, betrachte ich heute als Segen. Auch wenn ich das damals (ähnlich wie "meine" Jungspunde) zum k*** fand.
Was mich als Dozentin wirklich mitgenommen hatte, war der Umstand, dass einige Studenten ihre Arbeit mit sich selbst gleichgesetzt haben. Ich hatte eine Studentin im Grundkurs zur Lipidomic der ich ihr Protokoll auseinander genommen habe - und die mich dann weinend angerufen hat. Oh ha! Ich sage euch, da sitzt ihr erstmal zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite steht ihr nämlich hinter eurer Korrekturarbeit, auf der anderen Seite empfindet ihr Mitgefühl für das arme Wesen am anderen Ende der Leitung. Denn dieses Wesen hat etwas Grundsätzliches verwechselt: Ich habe ihre Arbeit kritisiert - aber doch nicht den Menschen, der sie gemacht hat. Das gehört getrennt! Rigeros! Und noch was: ich bin NICHT der Feind, der gehasst gehört!

Nun. Abgesehen von emotionalen Ausbrüchen haben mich drei weitere Dinge zumindest irritiert:
Ich hatte einen, der ein Lehrbuch abgeschrieben hatte, welches ich zuvor empfohlen hatte ... - ohne Worte -
Dann gabs Studenten, die geglaubt haben, dass ich den Text beim zweiten Mal durchwinke, obwohl sie NICHTS geändert hatten. Habe ich nicht durchgewunken. Wo kommen wir denn da hin?
Dann gabs Studenten, die zwar verbessert haben, aber ohne bei der Sache zu sein. Soll heißen, sie haben verschlimmbessert. Auch ne Variante, mich auf die Palme zu treiben.

Das was Studenten versuchen, versuchen auch Jungautoren. Wenn auch aus anderen Beweggründen. Bei einem Werk geht es nicht um die Note, die in dieser Form ja nicht vergeben wird. Wohl aber "durch die Blume", wenn es um Verkaufszahlen und Rezensionen geht ...

Und ich muss sagen: da hört es bei mir auf.
Ich korrigiere gerne die Texte von anderen. Weil ich glaube, dass ich helfen kann. Und weil ich - jaja, ich gebe es zu - meine Zeit als Dozentin vermisse und einfach gerne klugscheisser.

Ich bin geduldig und ich bin nachsichtig. Weil ich beide Seiten kenne. Ich weiß wie ätzend es sein kann, wenn jemand Wildfremdes an den eigenen Ergüssen rumbastelt.

Es kommt aber immer wieder vor (vor allem in Foren wie diesem), dass Jungautoren ihre Geschichte posten und erwarten, dass jemand Korrektur liest. Soweit so gut. (Und auf die Trolle gehe ich an dieser Stelle gar nicht erst ein.) Dann finden sich auch hilfsbereite Wesen und geben ihre Freizeit und ihr Bestes. Ich ERWARTE gar nicht, dass alle meine Anmerkungen Anklang finden oder gar umgesetzt werden. Was ich ERWARTE ist eine kurze Rückmeldung. Sowas wie "Danke". Ist das zu viel verlangt?

Was ich NICHT erwarte, ist eine mehr oder minder hübsch verpackte Variante von "ach, du hast doch eh keine Ahnung." Liebe, liebe Jungautoren, die mir über den Weg gelaufen sind und noch über den Weg laufen werden: Hätte ich keine Ahnung, hätte ich die Goschen gehalten. Frei nach dem Motto: "Einfach mal die Fre*** halten."

Nun. Das wollte ich einfach mal gesagt haben.

Habe fertig!


Es grüßt

Nephthys
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Wieso eigentlich ... sind Drachen weise? Das sind Echsen, liebe Leute. Echsen! Habt ihr euch schon mal nen Gehirn von einer Echse angeguckt? Himmel! Da haben meine Meerschweinchen größere Gehirne - und die finden nicht mal den Weg aus ihrem Käfig raus.
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