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Alt 10.11.2013, 18:55
Benutzerbild von Moon Mac Connuilh
Moon Mac Connuilh Moon Mac Connuilh ist offline
Ritter der Tafelrunde
 
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Dunkelmond Saga - Augen der Nacht- Anfang

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Draußen ist es nass, kalt und dunkel. Das beste was man tun kann, ist lesen!
Ich hab ja schon ein paar Textproben aus meinem Buch reingestellt.
Das ist jetzt der Anfang.( Für alle die Lust darauf haben).Denn Rest kann ich leider nicht reinstellen, sonst krieg ich vielleicht Ärger mit Amazon.
Viel Spass damit:

Prolog

Dichter Nebel verhüllte den Tempel hoch über den Gipfeln des Ilbae. Die Tore der heiligen Pforten waren aufgebrochen und die dunkelhäutigen Wächter lagen erschlagen im Schnee. Die Soldaten des Hochkönigs streiften umher, um nach Verletzten und Überlebenden zu suchen. Aber nichts regte sich mehr, auch kein Wimmern und Flehen.
„Hier entlang!“, rief der König. Sein Bart war lang, seine Augen dunkel. Mit eiserner Miene stieg er über die Körper der Toten und bahnte seinen Weg durch die Halle. Sein Ziel war die schwarze Pforte. Ein Relief aus augenlosen Gesichtern schmückte ihr Antlitz. Die mächtigen Flügeltüren waren geschlossen und er erkannte das Symbol ihres Gottes. Es war ein dunkles Auge auf silbernem Grund.
„Das ist es!“, rief er, „das ist das Herz!“
„Dieser Ort soll verflucht sein“, gab sein Sohn zu bedenken, „wir sollten verschwinden, bevor es zu spät ist.“ Auf dem Antlitz des Prinzen lag Furcht. Doch sein Vater blieb unerbittlich.
„Niemand darf überleben!“, entschied der König, „na los brecht es auf!“
Die Garde der Todlosen gehorchte ihm furchtlos. Mit eisernen Mienen folgten die Krieger ihrem Herrscher und begannen das Tor aufzustemmen.
„Ihr lahmen Hunde!“, brüllte der König, „macht schneller, oder ich lasse eure Seelen bald in der Hölle schmoren!“
Den Soldaten lief bereits der Schweiß von der Stirn. Angespornt vom Zorn ihres Meisters begannen sie sich umso stärker an die Eisen zu werfen. Als ein lautes, dumpfes Knarren plötzlich den Tempel erschütterte. Es schien aus den Tiefen der Erde zu kommen. Gebannt hielt der König inne. Fast wie von selbst begannen sich die Pforten zu bewegen und das gewaltige Schloss zerbarst.
Knarrend begann sich das Portal öffnen. Dahinter lag tiefe Finsternis.
Der König griff seine Fackel und trat ein. Es war totenstill, bis auf das Knirschen unter seinen Stiefeln. Der Feuerschein brachte ans Licht was auf dem Steinboden wimmelte. Es waren Insekten, mehr als sein Auge fassen konnte.
„Vater, wohin geht ihr?“
Aber der König schenkte ihm keine Beachtung mehr. Ohne sich umzudrehen lief er weiter und verschmolz mit der tiefen Dunkelheit. Sie schien endlos, wohin er auch ging. Als er in der Ferne plötzlich etwas sah. Licht! Dumpf fiel es in die Höhle und erhellte ein steinernes Antlitz. Wie alle Abbilder des Gottes war es augenlos. Die Statue war mächtig, größer als alle anderen. Mit festen Schritten ging er darauf zu und zog seine Klinge. Doch er war nicht allein. Zu ihren Füssen kniete ein Mann. Sein Haupt war kahl. Er schien gerade zu beten.
„Eure Herrschaft ist zu Ende!“, rief der König, „du wirst zu den Toten fahren wie deine Brüder!“
„Ich erwarte den Tod“, entgegnete der Priester, „sehr lange schon.“ Seine Stimme war sanft. Er hatte sich nicht bewegt. „Eine Zeit der Dunkelheit wird über euch kommen“, sprach er, „und ihr werdet vergessen, wer ihr einst wart."
„Was soll das heißen?“
„Dass es zu spät ist“, erklärte der Kahle, „für uns beide. “
„Du lügst!“ sprach der König. Aber der Priester wand sich um und sah ihm direkt ins Gesicht. Tiefe Höhlen starrten ihm entgegen, leer wie die seines Gottes.
„Wer bist du?“ rief der König entsetzt.
„Dein Schatten“, erwiderte der Augenlose, „du bist gekommen um meinen Platz einzunehmen.“
„Niemals!“, rief der Herrscher. Aus Furcht griff er sein Schwert und stieß es ihm durch die Kehle.
Blut strömte aus dem Hals des Priesters und ergoss sich auf seinen Kleidern. Als der König die Klinge heraus zog, brach der Mann zusammen. Er verblutete vor seinen Augen. Im gleichen Moment wurde dem König kalt. Er begann zu frieren, aus der Tiefe seines Körpers und er stolperte über die großen Opferschalen. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als wäre es mit glühendem Eisen durchbohrt worden. Auch die Klinge wurde schwer. Sie entglitt seinen Fingern. Verflucht seist du!“, brüllte er, „Und verflucht sei dein Gott!“.
„Vater!“, hörte er eine Stimme. Es war sein Sohn. Mit Schweiß überströmtem Gesicht sah der König ihn näher kommen, zusammen mit den Soldaten. „Vater, was ist geschehen?“
„Verschwindet!“, rief er, „macht, dass ihr fortkommt!“
„Aber Vater!“
„Geh!“, brüllte der König, und seine fiebrigen Augen glänzten. „oder ich töte euch! Euch alle!“



Das Abkommen

Der kühle Morgennebel lag wie ein weißer Mantel über dem Park und ein Schwarm dicker Krähen krächzte von der Krone einer Blaueiche. Keuchend hetzte die dicke Dienerin über den Parkweg. Ihr schweres Holzbein machte das Laufen zu einer Qual und sie stöhnte unter der Last ihres Leibes. Dabei hätte sich Martha nichts Schlimmeres wünschen können, als sich des Morgens schon solchen Strapazen auszusetzen. Die alten Bäume wirkten bedrohlich. Wie aus den Geschichten, die man sich nachts bei Kerzenschein erzählte. Sie hatte große Angst vor Baumgeistern. Meist warteten sie nur auf den richtigen Moment und trieben ihren Schabernack mit den Ahnungslosen.
„Velura!“ Ihre helle Stimme verlor sich im Morgennebel. Schon seit sechzehn Jahren war sie im Dienst des Syrers und kümmerte sich um sein heranwachsendes Mündel. Der Hausherr selbst, blieb meist abwesend. Einen Großteil des Jahres verweilte er an einem anderen Ort und tätigte seine Geschäfte nur von der Stadt aus. Kein Wunder also, dass der Park so verkommen war. Samuel, der alte Haushofmeister, war nicht mehr in der Lage alle anfallenden Pflichten zu erledigen und sein Enkel Egan musste ihm dabei unter die Arme greifen. Sie waren die einzigen Bediensteten die der Syrer beschäftigte, abgesehen von ihrer Wenigkeit. Und mehr wollte er sich auch nicht leisten. Denn er legte keinen Wert auf seinen Garten, empfing nur selten Besuch und die wenige Zeit, in der er auf seinem Schloss verweilte, verbrachte er meist in seiner großen Bibliothek.
„Velura!“ Die Pflanzen wurden zunehmend dichter und der Pfad immer schmaler. Als würden die Bäume Gesichter tragen. Mit ihren Händen schlug die Dicke den Feind beiseite und brach die verwilderten Zweige. Irgendwo musste das Mädchen ja stecken. Man konnte hier Tage damit verbringen, jemanden zu suchen. Und der Sonne nach, schien es bald früher Vormittag zu sein.
Erschöpft betupfte Martha ihr Gesicht mit dem Taschentuch. Ihr Gewicht machte ihr das Atmen schwer. Und bis zu den Hüften steckte sie schon im hohen Gras. Aber wo in aller Welt war sie? Dieser Teil des Parks war ihr vollkommen unbekannt. Aus den Wipfeln der Bäume vernahm sie nun Vogelstimmen und weiter entfernt auch ein Bellen. Gott Gütiger Die Hunde! Dort musste auch ihr Schützling Velura sein!
Eilig raffte sie ihren Rock und folgte den Tieren nach. Der Weg durch die Wiesen war beschwerlich. Doch das Bellen kam näher.
Tatsächlich, sah sie bald hohe Bäume und eine Lichtung, auf der das Mädchen mit den Jagdhunden spielte. Die schlanken Rüden hatten sich in einen Stock verbissen und versuchten, ihn der jungen Frau zu entreißen.
Sie wollte gerade noch „gib Acht!“ rufen, als Velura bereits bäuchlings im Gras landete.
Lachend blieb das Mädchen dort liegen und sah, wie die Tiere mit der Beute davon rannten.
„Vell!“, rief die Dicke wütend, „Velura!“
Zuerst hob sich eine Nase aus der Wiese. Dann der Rest eines Elfengesichts. Die Frisur der jungen Frau war zerstört. Und das braune Haar hing ihr wild um die Schultern
„Wie kommst du denn hier her?“, fragte sie verwirrt.
„Dein Onkel möchte dich sprechen“, keuchte Marta, „schnell, du musst dich beeilen.“
„Wieso? Was will er denn?“
„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete die Dicke ratlos, „na los, er wartet auf dich! “
Mit missmutigem Blick erhob sich Vell aus dem Gras und befreite ihr Kleid von den Blättern.
„Na schön“, knurrte sie, „dann geh ich eben.“
Obgleich sie es nicht sehr gerne tat. Ihr Großonkel war nicht das, was man sich unter einem verständnisvollen Menschen vorstellte. Er war überhaupt kein Mensch, sondern der Letzte einer aussterbenden Art.
Angespannt knotete sie ihr Haar zu einem Zopf und machte sich auf den Weg. Es war sicher einer dieser Pflichtbesuche. Eine Demonstration seines großen Verantwortungsgefühls.
Seit er vor zwei Tagen heimgekehrt war, hatte sie ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen. Selbst zu den Mahlzeiten gab er dem Personal Anweisungen, ihn nicht zu stören. Und nach Vell hatte er erst gar nicht gefragt.
Während sie lief, hörte sie hinter sich die Hunde bellen. Kasper und Vinci waren ihr gefolgt und wedelten nun erwartungsvoll mit dem Schwanz.
„Ich kann nicht mit euch spielen“, rief sie, „na los ihr beiden, jagt Ratten!“
Aufgeregt sprangen die Rüden um sie herum und bettelten weiter um Aufmerksamkeit. Aber da Vell entschlossen blieb, ließen sie bald von ihr ab und trollten sich wieder zurück in den Park.
Allmählich begann sich auch der Nebel zu lichten. Und die Sonne gewann nun die Oberhand. Heute war der erste Tag, an dem der Himmel nicht voller Wolken hing.
Keant war ein einsamer Ort. Ein kleiner, vergessener Landsitz. Der angrenzende Wald machte ihn zu einem grünen Exil und außer der Köhlerfamilie gab es hier weit und breit keine Nachbarn. Aber ihr Großonkel hielt es für richtig, dass sie hier ihre Jugend verbrachte. Hier, im letzten Weiler am Ende der Welt. Bis zu dem Tag, an dem sie endlich einundzwanzig war.

Eilig lief Vell durch den Garten und nahm die Stufen hinauf zur Terrasse. Das große Tor stand bereits offen und sie passierte die vier Privatdiener ihres Onkels, die gerade die Kommoden abstaubten. Jetzt, da er hier war, würden sie alles auf Vordermann bringen und dem Schloss neuen Glanz verleihen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Im Herbst war wieder alles wie vorher, bis zum langen und kalten Winter.
Von der kleinen Empfangshalle aus, war es nicht weit bis zur Wendeltreppe. Sie führte hinauf in die Bibliothek. Und schon auf den Stufen hörte Vell ihren Großonkel husten. Für gewöhnlich war dies der Ort, an dem sie sich sonst zu Hause fühlte. Doch sobald der Syrer hier war, war es sein Reich. Und es war ihr verboten sich in der Bibliothek aufzuhalten.
Mit angehaltenem Atem lief sie zur Tür mit den dunklen Einhörnern. Es war soweit. Zeit, sich dem Drachen zu stellen. Also holte sie tief Luft und schob sie vorsichtig auf.
Würziger Qualm vernebelte den Raum. Der große Schreibtisch war heute mit allerlei Papieren übersät und dazwischen stand noch das Frühstücksgeschirr.
Ein ergrauter Mann sah auf. Der Syrer trug noch immer seinen Morgenmantel und die braune Perücke schmückte den Kopf seiner weißen Königsbüste. Gleich daneben lehnte sein silbernes Florett. Wie die meisten Adligen trug er es nur zur Zierde. Nicht, um sich ernsthaft zu duellieren. Selbst sein berühmtester Ahne, der Forscher Hifinas Norex, trug ein Florett auf dem Portrait, obwohl er sein Laboratorium zu Lebzeiten so gut wie nie verlassen hatte.
„Da bist du also“, bemerkte er sie. Mit müden Augen musterte er ihre Erscheinung vom Kopf bis zu den Füßen.
„Ich hatte meine Nichte erwartet und keine Blattlaus.“
„Das ist nur Gras. Ich war gerade im Park spazieren.“
„Sieht eher nach eine Prügelei aus“, stellte er fest, „und es betrübt mich zu sehen, dass du nicht nach deiner Großtante gerätst.“
„Ihr meint Tante Petunie?“
„Ja in der Tat. Sie war so ein ausgeglichenes Wesen.“
„Aber sie hat sich schon mit zwanzig erhängt, Onkel. Das könnt Ihr nachlesen.“
„Tatsächlich? Nun wie Schade. Sie hätte eine großartige Zukunft haben können. Du dagegen hast nicht mal Mitgift. Nur ein sehr hübsches Gesicht.“
Sein Antlitz hatte jetzt einen strengen Ausdruck. Und es wurde mit jedem Moment strenger.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich oft mit Martha streitest. Sie sagt sie hat große Sorgen mit dir.“
„Das ist nichts ernstes, Onkel, wirklich.“
„Und deshalb nennst du sie Humpelpest?“
„Weil sie mich andauernd bevormundet! Und nicht einsieht, dass ich kein Kind mehr bin!“
„Was denn sonst? Eine kleine Kröte vielleicht? Dabei hatte ich dich rufen lassen, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen, und nicht um mich über dich zu ärgern.“
„Und was?“
„Ich erwarte morgen Gäste. Sie kommen einen weiten Weg hier her und bleiben für einige Tage bei uns.“
„Seit wann habt Ihr Gäste? Ich meine, in diesem Leben?“
„Nun, ich habe Geschäftliches zu klären und Persönliches. Und ich verlange, dass du dich von nun an wie ein ganz normales Mädchen verhältst? Hast du mich verstanden? Wie ein Mädchen in deinem Alter.“
„Aber ich bin nicht normal. Ich meine, hier ist überhaupt nichts normal! Ich darf nie hier raus, nicht einmal im Jahr! Und ich finde es ist an der Zeit, dass ich….“
„Dass du dir das aus dem Kopf schlägst!“, fiel ihr der Syrer ins Wort, „Reisen ist nur etwas für reiche und gut betuchte Männer, und du bist weder das eine noch das andere. Davon abgesehen habe ich bereits andere Pläne für dich. Und ich will nun nichts mehr von diesen Dingen hören.“
„Aber dann werde ich ganz sicher wie Tante Petsi enden! Und zwar schon mit siebzehn!“
„Schluss jetzt!“, rief er und schlug auf den Sekretär, „du tust was ich dir sage, und weil ich es sage! Hast du mich verstanden! Ich habe schon genug Plagen am Hals. Aber du bist die Schlimmste von allen!“
Vell sah wie er zitterte. Sein Gesicht wurde rot, und er atmete durch die Nase.
„Jetzt geh!“, rief er, „verschwinde na los!“
Velura war erstarrt, wusste nicht was sie tun sollte.
Doch ihr Großonkel meinte es ernst
„Wie Ihr wünscht!“, fauchte sie.
In Wahrheit hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Diesen verbitterten alten Affen. Er war ihr ohnehin egal, so wie sie ihm egal war und daran würde sich auch nichts mehr ändern.
In stillem Hass lief sie hinaus in den Gang und dann weiter die Treppen hinauf in ihr Zimmer. Es lag oben im Turm und war das Letzte unter dem Dach.
Wütend öffnete sie die Tür, um sie dann laut hinter sich zu zuschlagen. Die langen, grünen Vorhänge waren noch vor die Fenster gezogen und ihr großes Himmelbett blieb ihr letzter und einziger Zufluchtsort. Oft fragte sie sich, wie es gewesen wäre, Eltern zu haben. Eltern die sie liebten, oder sich ab und an um sie Sorgen machten. Aber alles, was ihr von ihnen blieb, war eine Kette. Sie griff an ihren Hals, um sie zu betrachten. Es war ein silberner Anhänger, mit zwei verwobenen Schlangen. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass die beiden lebendig waren und oft mit ihnen gesprochen. Aber die Erinnerung daran drohte immer mehr zu verblassen und vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet.
Die Momente kamen und gingen, wie der Takt ihres goldenen Zeitanzeigers. Mit dem Gesicht einer Sonne stand er neben ihrem Bett und teilte den Tag in endlose Augenblicke. Heute dauerten sie besonders lange, beinahe eine Ewigkeit.
Wie aus weiter Ferne, vernahm sie auf einmal ein Poltern. Es näherte sich von der Treppe und wurde mit der Zeit immer lauter. Martha, wer sonst. Bald schon hatte sie ihre Tür erreicht und ein breites Tablett schob sich durch ihre Zimmertür. Darauf dampfte eine Porzellankanne.
„Ich will nichts! Geh und lass mich in Frieden.“
„Wie du meinst“, gab die Dicke zurück, „dann stelle ich es eben neben dein Bett.“
„Ich sagte nein!“
„Es ist nur Kakao“, erwiderte Martha unverständig, „und es wäre doch schade drum.“
„Es ist nur schade, dass du so eine miese Petze bist! Du hast dich schon wieder bei ihm ausgelassen.“
„Ich mache mir eben Sorgen um dich, und dein Großonkel ebenso.“
„Sorgen! Ich bin seine Gefangene, weiter nichts!“
„Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist“, lenkte Martha ein, „aber dein Onkel hat deinem Vater nun mal versprochen, dass er auf dich aufpasst.“
„Als ob die Welt dort draußen böse wäre! Ich will doch nur ein paar Freunde finden, oder ab und an in die Stadt fahren!“
„Morgen gibt dein Onkel ein Fest“, erinnerte Martha, „dann wirst du wohl etwas Abwechslung haben.“
„Und wenn schon! Ich soll sowieso nur in der Ecke stehen und so tun, als wäre ich schwachsinnig!“
„Was bist nur für ein Sturkopf!“, murrte die Dicke, „hilf mir lieber wenn dir langweilig ist, anstatt den ganzen Tag nur herum zu maulen.“
„Das hier ist immer noch mein Zimmer“, bestimmte Vell, „du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt! “
„Was soll das denn bitteschön heißen?“
„Dass ich genug von dir habe! Und nun geh endlich! “
Martha verstummte und zog ihre breite Stirn in Falten.
„Ganz wie du willst“, drohte sie, „aber ab morgen sieht dein Tag anders aus, junge Dame. Dann ist Schluss mit dem ganzen Affenzirkus!“
Zornig humpelte die Dicke zur Tür und zwängte sich beleidigt hinaus. Geblieben war nur der süßliche Geruch ihrer Seife und eine Kanne voll Schokolade.
Vell ignorierte sie dennoch und ging stattdessen zum Fenster, um Tageslicht herein zu lassen. Von hier aus hatte sie Blick auf den Garten, auf die große Eiche und die Schwalben die sie umkreisten. Der Himmel über ihr war wolkenlos, strahlend blau. Es würde ein sonniger heißer Tag werden. Ein Tag, wie sie ihn sich seit Wochen gewünscht hatte, nur, dass er diesmal ohne sie stattfand.


Erst in den frühen Abendstunden verließ Vell ihr Exil, um eine tägliche Verabredung einzuhalten. Denn Egan wartete, sowie jeden Abend und sie musste zurück sein, bevor die Sonne unterging. Dabei nahm sie wie immer die Abkürzung zum alten Brunnen. Er lag direkt auf ihrem Weg und war ein willkommener Platz zum Verweilen. Schon von weitem sah sie die steinernen Götter und fühlte, dass ihre Trübsal gegangen war. In früheren Epochen hatten hier Gartenfeste und Zeremonien stattgefunden. Doch diese Tage waren längst vorüber. Heute waren die Statuen mit Moos überwachsen und der Brunnen sammelte nur noch Regenwasser. In der Mitte thronte der Herr aller Götter, Affines, der mächtige Schöpfer des Lebens. Und neben ihm standen seine Söhne Caligo und Ilion. Sie waren als Menschen dargestellt, wie in den alten Tempeln. Affines schmückte das Haupt eines Löwen. Und Ilion zu seiner Linken war fast nackt und hatte den Körper eines athletischen Kriegers. Sein Bruder Caligo dagegen, war unansehnlich, ja regelrecht abstoßend. Als Kind hatte sie sich immer vor dieser Statue gefürchtet. Er hatte zwar ein Gesicht, jedoch keine Augen und sein Schädel war vollkommen kahl. Doch je länger man ihn ansah, desto freundlicher wirkte sein Gesicht und desto friedlicher erschien ihr die Vorstellung, von ihm beschützt zu werden.
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Aber so gerne Vell hier verweilte, länger konnte sie heute nicht bleiben. Es dämmerte bereits. und ihr blieb nicht viel Zeit bis zum Abendessen. Also raffte sie ihr Kleid und lief über den Kiesweg zum Stall. Er lag nur wenige Minuten entfernt. Schon von weitem hörte sie die Hühner gackern und eine frisch gepfiffene Melodie. Diesmal kam sie nicht aus der Scheune, sondern führte sie direkt auf den Innenhof. Dort tummelten sich fette Hennen um einen rothaarigen Jungen. Er war schmächtig, von schlaksiger Gestalt und ausgemergelt wie ein Leichenhemd. Scheinbar hatte Egan sie nicht bemerkt. Sie kletterte durch den Zaun und schlich sich heimlich an ihn heran.
„Ich bin‘s“, verkündete sie und tippte ihm von hinten die Schulter.
Egan erschrak, so wie immer. „Vell! Ich dachte schon du kommst nicht mehr!“ Sein bleiches Gesicht zog ein Grinsen und er reichte ihr einen Korb voller Eier. „Hier zähl mal. Die sind frisch aus dem Stall“
„Es sind zwanzig“, schloss Vell nach kurzem Blick, „und sie sind groß.“
„Ja, aber heute Morgen waren es noch siebenundzwanzig. Wie es scheint haben wir einen Eierdieb.“
„Sicher, dass du es nicht warst?“, scherzte sie.
„Wo denkst du hin? Ehrliches Essen muss ehrlich verdient sein. Und diesen Dieb werde ich noch erwischen!“
Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und rieb seine Nase. Seit einem Jahr wuchs ihm sogar etwas Bart, der ihm wie Kükenflaum aus dem Gesicht sprießte.
„Soll ich dir mit den Hühnern helfen?“
„Nein, ich bin sowieso bald fertig.“
„Und was ist mit meinem Buch? Bist du damit auch schon fertig?“
„So einigermaßen.“
„Was soll das heißen, so einigermaßen?“
„Ich hab mir die Bilder angesehen, und zwar alle.“
„Oh Egan, aber es ist wirklich ganz leicht. Und wir haben solange dafür geübt.“
„Hab eben wenig Zeit“, erwiderte er achselzuckend, „wer essen will, muss arbeiten. Und wie du weißt kann ich eine Menge essen. “
„Und was ist an deinem freien Tag? Da kannst du doch tun was dir gefällt, oder?“
„Ich mag Märchen eben am liebsten, wenn du sie vorliest“, erklärte er, „dann kann ich mir alles vorstellen, sogar die hübschen Prinzessinnen.“ Er lächelte, so, dass man seine Zahnreihen sehen konnte, auch die Spalte zwischen den Vorderzähnen.
Vell mochte es nicht, wenn er solche Scherze machte, erst Recht nicht, wenn sie dabei rot wurde.
„Ach ja? Aber du hast doch noch nie eine echte gesehen!“
Doch Egan tat, als hätte er ihren Einwand überhört.
„Der Elefant hat mir auch gefallen und der Mann mit dem lustigen Hut.“
„Das war ein Kalif. Und der Hut war ein Turban. Man wickelt ihn um den Kopf, um sich vor der heißen Sonne zu schützen.“
„Was du alles weißt“, schwärmte er, „man könnte meinen du bist schon durch die ganze Welt gereist.“
„Nicht wirklich“, schloss Vell ernüchtert, „sie lassen mich hier ja nicht raus.“
„Ach, mach dir nichts draus. In ein paar Jahren hast du Geld wie Heu. Und dann fahre ich dich, wohin du willst.“
„Das will ich doch hoffen“, neckte sie lächelnd, „es ist immerhin schwer, gutes Personal zu finden.“
„Na klar“, erwiderte Egan. Doch sein Lächeln wirkte nun etwas eingefroren.
„Ach weißt du schon das Neuste?“, wechselte Vell das Thema, „der Syrer kriegt morgen Gäste.“
„Ja schon gehört, dann ist hier ja endlich mal etwas los.“
„Ja“, bestätigte sie und vermied es in sein heiter gequältes Gesicht zu sehen. Die Dinge hatten sich bereits geändert, das war ihr klar. Und gerade das machte es wohl kompliziert.
„Ich muss jetzt gehen“, entschied sie, „bis morgen.“
„Bis morgen!“, rief er, „und pass gut auf deinen Weg auf.“
Aber das musste sie gar nicht. Sie kannte ihn ja im Schlaf. Außerdem hatte sie keine Angst vor der Nacht und liebte den Mond ein wenig mehr als die Sonne. Er war stiller, schöner und man konnte ihn stundenlang beobachten, ohne sich dabei die Augen zu verderben. Der Parkweg erstrahlte in weißem Licht und mit etwas Glück würde sie bald auf ihrem Zimmer sein. Dort gab es süßen Kakao, jede Menge Kuchen und die Aussicht auf eine Nacht voller Sternschnuppen. Dabei war es immer der gleiche Wunsch, den sie hegte, egal, wie viele sie auch sah. Doch bisher war er nicht in Erfüllung gegangen.
In der Ferne sah sie nun die Lichter des Schlosses und den Turm, der sich schwarz in den Himmel hob. Na schön, sie hatte das Abendessen verpasst und ihr Bad. Aber was machte das schon? Es war Sommer! Außerdem gab es noch genug andere Abende. Dieser war einfach zu schön dafür.
Als sie wenig später am Tor ankam, fand sie die Terrasse bereits verlassen. Auch innen war es ruhig. Kleine Öllaternen erhellten den verlassenen Festsaal und sie schlich sich leise durch die Tür bis zur Vorhalle. Wie es schien, hatte sie heute Glück. Keiner der Diener war unterwegs und sie schaffte es unbemerkt bis zur Wendeltreppe. Wie alle Stockwerke war ihr Zimmer nur über den Turm zu erreichen, über zweihundertzwanzig Stufen, um genau zu sein. Dabei ließ sie jedes Mal eine aus und zählte bis hundertzehn. Das Husten im ersten Stock verriet, dass ihr Großonkel noch immer in der Bibliothek saß und die Geräusche aus dem Keller, dass seine Diener gerade zu Abend aßen. Dabei fiel ihr ein, dass sie selbst auch etwas hungrig war. Doch es war wohl klüger, sich den Appetit noch auf zu sparen. Erstens, musste man später niemanden fragen und zweitens, konnte man sich aussuchen, was und wie viel man wollte. Aber auf einmal hörte sie auf der Treppe Geräusche. Schritte kamen herunter, leise und schnell. Velura erstarrte.
Auch das noch! Um umzukehren, war es zu spät.
Jeden Moment würde jemand um die Ecke kommen. Dann würde sie ….Doch Halt!
Warum in aller Welt hörte sie dann nichts mehr?
Gebannt hielt sie die Luft an und lauschte. Aber es blieb ruhig. Vollkommen still. Alles was sie vernahm, war ihr eigener Atem. Das konnte nicht sein! War sie etwa verrückt?
Vorsichtig setzte sie nun einen Fuß vor den anderen. Ihre Tritte waren fast lautlos.
Und doch sie hörte plötzlich noch etwas. Es war ganz leise. Über ihr auf der Treppe. Jemand ging jetzt die Stufen hinauf, kaum hörbar.
Großer Gott! Wer konnte das sein?
Sie fasste Mut und folgte ihm nach. Daraufhin wurden die Schritte noch schneller.
Und als sie zu rennen anfing, tat der Gejagte es ebenfalls. Also doch. Ein Eindringling! Nun war es also offiziell, die Verfolgungsjagd hatte begonnen! Er hatte Vorsprung, vielleicht zwanzig, vielleicht auch vierzig Stufen. Sie hörte, wie er Richtung Turmspitze lief. Dort konnte er sich nicht verstecken. Dort würde sie
„Velura!“
Vell zuckte zusammen. Über ihr auf der Treppe stand plötzlich Martha. Mit einem äußerst bösen Gesicht.
„Wo in aller Welt hast du gesteckt?“, rief die Dicke „hast du überhaupt eine Ahnung, wie spät es ist?“
„Nein, aber ich..“
„Kein aber mehr, junge Dame. Ab morgen hast du Hausarrest!“
„Hausarrest? Aber den hab ich doch das ganze Jahr über! Warum steckt ihr mich denn nicht gleich ins Verließ? Das wäre wenigstens mal ne Abwechslung!“
„Velura! Bleib gefälligst stehen wenn ich mit dir rede!“
Aber Vell dachte nicht daran. Wütend drängte sie sich an Martha vorbei und lief hinauf in ihr Zimmer. Bevor die Dicke sie einholte, verriegelte sie von innen die Tür und lehnte sich dagegen.
„Velura! Mach sofort auf!“ Martha schlug mit ihren Fäusten dagegen und riss am vergoldeten Griff. „Ich habe genug von deinem Benehmen! Hörst Du? Und mit diesem Egan ist es auch vorbei!“
„Lass Egan da raus! Oder ich sage dem Syrer, dass du heimlich seine Pasteten isst!“
„Na warte, kleine Natter! Glaub ja nicht, dass du damit durch kommst!“ Ein weiterer Schlag erschütterte die Tür, so, dass Vell erschrocken zurück wich.
„Ab jetzt ist Schluss mit dem Unfug! Hörst Du? Ein für alle Mal!“
Angespannt lauschte Vell am Türrahmen. Wie es schien war Martha die Luft ausgegangen und vielleicht auch die nötige Kraft. Polternd humpelte die Dicke davon und stampfte über die Stufen den Turm hinunter. Sicher würde sie sich wieder beim Syrer beschweren, so, wie immer. Nur diesmal war es ihr egal. Hauptsache, sie war allein.
Und erst jetzt fiel es ihr wieder ein- Der Eindringling! Wie konnte ihn Martha übersehen haben?
Er musste doch an ihr vorbei gekommen sein, jetzt, auf der Treppe. Über ihrem Zimmer gab es nur noch die Turmspitze, aber die war das ganze Jahr über abgesperrt. Vielleicht war er auch aus dem Fenster gesprungen. Denn eine andere Möglichkeit gab es nicht, außer… verdammt-ihrem Zimmer! Bei Gott, das war alles andere als komisch!
Mondlicht fiel durch die geöffneten Vorhänge, direkt auf ihr großes Himmelbett.
Es war still. Alles schien noch so wie sie es verlassen hatte. Trotzdem fühlte sich diese Einsamkeit seltsam an. Niemand würde sie hier oben hören, auch nicht, wenn sie um Hilfe schrie.
Dieser Gedanke war nicht gerade ermutigend.
Um nicht im Dunkeln herum zu stehen, schlich sie zur Kommode und nahm die Kerze mit den Zündhölzern an sich. Eine kleine Flamme schenkte ihr Licht und erhellte das Zimmer. Es gab genau zwei Dinge, die man in solchen Fällen überprüfen musste: Erstens, den Schrank und zweitens, das Bett. Sie beschloss zuerst mit dem Bett zu beginnen. Als Kind hatte sie sich oft darunter versteckt. Und mit klopfendem Herzen begab sie sich auf die Knie. Vorsichtig hob sie den Überzug beiseite. Aber außer Staub und Spinnweben gab es nichts zu entdecken. Der einzige Verdächtige war ein flüchtender Weberknecht. „Großer Gott“, murmelte Vell. Doch es war zu früh, um erleichtert zu sein. Das Schlimmste stand ihr erst noch bevor. Der Kleiderschrank. Er war zwei Meter hoch, breit und hatte dicke, schwere Holztüren. Aber sie musste es wissen. Also griff sie nach der Schranktür und zog sie auf. Allerhand Kleider stürzten ihr entgegen, auch Schuhe und Stiefel in jeglichen Größen. Um ein Haar wäre auch ihre Kerze erloschen. Begraben unter ihren Sachen, begann sie sich durch alles durch zu wühlen und leuchte in jeden Schuh. Die meisten davon waren alt, andere nur einmal getragen, aber ein fremdes Paar Beine war zum Glück nicht dabei. Etwas beruhigter warf sie einen Blick in den Rest des Raumes.
Um sich in der Kommode zu verstecken, war sie zu klein, auch der Spiegelschrank. Die Tür war verriegelt, und sicherheitshalber zog sie den Schlüssel ab. Was auch immer hier ein und aus ging, kam jetzt nicht mehr hinein. Sie war jetzt in Sicherheit, sicher, dass niemand mehr hier war. Also kletterte sie auf ihr großes Bett und zog sich die Decke bis zur Nase. Alles lag vor ihr. Die Tür, der Schrank und beide Fenster. Es war still, bis auf das Pochen in ihrem Kopf. Noch immer war sie ängstlich, trotz aller Vorkehrungen. Aber weshalb? Sie hatte alles doch alles überprüft, jeden Winkel, vom Boden bis zur Decke. Doch Halt. Erstarrt sah sie zum Dach ihres Himmelbettes. Der Baldachin. Er war so groß, dass er fünf Eindringlinge verstecken konnte. Und so hoch, dass sie allein nicht hinauf kam. Erst Recht nicht mit einer Kerze. Was für ein grauenvoller Gedanke!
Sie musste etwas tun, irgendetwas, Hauptsache, es ging ihr besser.
„Du musst keine Furcht haben“, erhob sie die Stimme, „es ist alles in Ordnung.“ Sie wünschte sich, sie hätte mutiger geklungen und weniger zaghaft.
„Ich hab auch schon daran gedacht. Ich meine, etwas mitzunehmen und dann zu verschwinden. Und eines Tages werde ich das auch tun, verstehst du? Ich werde einfach weglaufen. Aber das bleibt unser Geheimnis, verstanden? Ich sag auch niemandem, dass du hier bist.“ Aber niemand antwortete, nur ein Käuzchen dessen Schrei über die Wälder hallte. Den Schlüssel hielt sie fest in der Hand und verkroch sich damit unter der Decke. „Also dann gute Nacht. Hat mich wirklich gefreut dich kennen zu lernen.“









Gastspiel

„Velura! Velura mach auf!“
Benommen schreckte Vell hoch. In ihrem Zimmer war es bereits taghell und der Zeitanzeiger auf der Kommode sagte, dass es schon beinahe Mittag war. „Velura!“
„Sofort!“, versprach sie und sprang aus dem Bett, „ich stehe gerade auf.“
In Wahrheit rannte sie erst zum Fenster. Der Griff war so fest wie am Tag zuvor. Dann zur Tür. Großer Gott. Der Schlüssel! Ängstlich starrte sie auf das goldene Schlüsselloch und sah, dass er bereits fest darin steckte.
„Velura!“
„Ja Moment!“ Ihre Hände zitterten. Wie in Trance drehte sie ihn um und hörte kurz darauf das vertraute Knacken. Schon im nächsten Moment zwängte sich Marta hindurch. In ihren Händen trug sie einen Berg voller Kleider. „Schnell, schnell“, drängte die Dicke, „wir müssen dich anziehen
„Ja gut“, murmelte Vell,. Aber in Gedanken war sie Meilen weit weg. Etwas ging hier vor, etwas Unheimliches und sie musste herausfinden, was.
Doch wie gewohnt, folgte zuerst die Prozedur des Ankleidens. Der gestrige Streit schien zum Glück wie vergessen und sie nahm an, dass Martha heute dafür zu beschäftigt war.
Ein Segen, denn es gab wichtigere Dinge. Und während die Dienerin sie frisierte, rätselte Vell über den Schlüssel in ihrer Hand.
„Ist in letzter Zeit etwas verschwunden? Egan sagt, es wurden Eier gestohlen.“
„Das war sicher ein Fuchs“, versicherte Martha, „wir hatten schon einen im letzten Jahr.“
„Und sonst?“
„Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?“
„Nur so.“
„Du weißt, dass wir heute Abend Gäste bekommen“, mahnte Marta, „der Syrer erwartet mehr als dreißig Personen.“
„So viele?“
„Er möchte, dass ich dich rechtzeitig vorbereite. Außerdem ist er nach dem Frühstück spazieren gegangen und ich will nicht, dass er dich wieder im Park erwischt.“
„Er geht spazieren? Aber das tut er doch sonst nie.“
„Heute schon und du bleibst schön, wo du bist, verstanden?“
*
Aber Vell hatte längst eigene Vorstellungen, vor allem was ihren Hausarrest betraf. Sie wartete noch bis Martha gegangen war und schloss dann von außen die Tür. Wenn sie richtig lag, blieb ihr genau eine Stunde bis zum Mittagessen. Und da der Syrer gerade im Park spazieren ging, konnte er nicht gleichzeitig in der Bibliothek sein.
Dort gab es unzählige Bücher, über die unterschiedlichsten Phänomene. Geister waren in alten Häusern ja keine Seltenheit. Und vielleicht war es nun ihre Aufgabe, eine gepeinigte Seele ins Licht zu führen. Die dunkle Einhorntür war nur angelehnt. Vell schob sie vorsichtig auf und schlüpfte hinein. Wie gewohnt roch noch alles nach Pfeifenqualm. Der Schreibtisch war heute verwüsteter denn je und es sah so aus, als ob ihr Onkel gerade in schwerer Arbeit steckte. Ein Sammelsurium aus Papieren stapelte sich zu hohen Türmen, dazwischen standen kleine braune Flaschen und ein Tablett mit noch unberührten Trüffelpasten. Trüffelpasten! Warum auch nicht? Mit beiden Fingern fischte sie eine Große vom Teller und stopfte sie sich in den Mund. Noch während sie aß, fiel ihr auf einmal ein zerknitterter Brief ins Auge. Er war auf Pergament geschrieben und lag geöffnet auf dem Sekretär.

Verehrter Arthur,
Ich bin überaus glücklich zu hören, dass ihr euch trotz eurer Bedenken zu unserem Abkommen durchringen konntet. Auch wenn ihr vielleicht Zweifel hegt, so seid dennoch versichert, dass euer Besitz bei mir in den besten Händen sein wird. Noch in dieser Woche werde ich kommen, um alles selbst zu inspizieren. Darüber hinaus, werde ich alle nötigen Vorkehrungen treffen, die nach eurem Ableben notwendig sind. Bis dahin gehabt euch wohl und möge Gott eurer Leiden erleichtern. In tiefster Verbundenheit,
Lord Seraphim
Veluras Atem stockte. Sie hatte die Pastete hinunter gewürgt, fühlte aber, dass sie noch in ihrem Hals steckte. Der Brief in ihren Händen zitterte. Sie las ihn noch ein zweites, ein drittes Mal und versuchte, zu begreifen welche Worte dort lauerten. Sollte das etwa bedeuten, dass ihr Großonkel mit seinem Ende rechnete? Und wer in Gottes Namen war dieser Lord Seraphim? Ihr Blick schweifte umher und fiel auf die vielen Violen. Es waren insgesamt sieben, die meisten geöffnet. Sie nahm eine und hielt sie sich unter die Nase. Die Flasche war leer, roch aber scharf und berauschend nach Alkohol. Darauf war eine Aufschrift. Rumex Vimensis? Was für ein merkwürdiger Name!
Hastig stellte sie das Fläschchen zurück und lief hinüber in die Bücherabteilung. Sie beherbergte mehr als zehntausend Buchrücken. Die meisten davon waren alt und gehörten zu dem Archiv, das ihre lichtscheuen Vorfahren schon vor tausend Jahren angelegt hatten. Allein im Bereich Medizin mussten es über tausend sein.
Vell hatte keine Ahnung, wo sie ihre Suche beginnen sollte. Aber dafür gab es ja Leitern.
In luftiger Höhe reihten sich an die hundert Exemplare über Anatomie und weitere siebzig über die Behandlung von Verletzungen. Auch über Hausmittel, Zahnschmerzen und Schwindsucht. Doch halt. Ein Buchrücken fehlte, genau zwischen zwei verzierten Pflanzenlexika.
Ein Zufall?
Nein, ihr Großonkel musste es selbst heraus genommen haben.
Also, kletterte sie hinunter und begann zu suchen. Zuerst sah sie in jede Sitzecke, jeden Winkel und jeden Raum, vorbei an Regalen und Tischen. Dabei entdeckte sie, dass ein Fenster offen stand. Der Vorhang war bei Seite gezogen und die Sonne schien auf den staubigen Fenstersims. Tatsächlich, sie hatte es längst geahnt. Dort lag ein Buch.
Gebannt ging sie darauf zu und beugte sich über die vergilbten Seiten.
Bei Gott, sie musste es nicht mal nachschlagen.

Rumex Vivensis- Das Kraut des Lebens,
Der Saft der reifen Knospen verlängert das Leben eines unheilbar Kranken über die natürliche Dauer hinaus, sofern sein Herz zum Zeitpunkt der ersten Einnahme noch intakt ist. Die Wirkung hält jedoch nicht länger als 3 Wochen an und geht mit einer vollständigen Zerstörung der Leber einher. Nach dem Ableben des Patienten färbt sie sich schwarz, ebenso wie seine Lippen und die Zunge. Die Verabreichung an Gesunde ist daher strengstens verboten, da sie unwiderruflich zum Tode führt.

Sie blätterte weiter, suchte nach Worten, einem Gegenmittel, irgendetwas. Doch welche Krankheit er auch hatte, hier stand es geschrieben: Ihr Großonkel würde bald sterben, so oder so. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Gab es denn niemanden, der ihm helfen konnte? Keine Medizin?
Das hatte sie ihm nicht gewünscht, egal was für ein Mensch er auch sein mochte.
Zu allem Übel hörte sie nun eine Stimme auf der Terrasse. Ihr Großonkel. Na großartig. Ihr blieb ihr nur wenig Zeit, um zu verschwinden.
So schnell sie konnte huschte sie aus der Bibliothek und nahm die Wendeltreppe nach unten.
Sie beschloss, Egan zu suchen. Vielleicht hatte er eine Idee. Denn ihre waren schon ausgegangen.
Doch diesmal war er nicht bei den Hühnern, auch nicht bei den Ziegen. Stattdessen traf sie den alten Samuel an, der gerade den Stall sauber machte. „Wo ist Egan?“, brach es aus ihr heraus: „Ich muss mit ihm sprechen!“
„Er ist nicht da, Mistress. Er ist nach Weald gefahren.“ Müde kratzte sich Samuel seinen weißen Bart, „soll ich ihm was von dir ausrichten?“
„Wann kommt er denn wieder?“
„Vor Sonnenuntergang hoffe ich, wir haben noch eine Menge zu tun.“
„Du meinst wegen dem Besuch?“
„Ja, der Syrer erwartet heute Abend Gäste. Bis dahin muss alles fertig sein. Ein richtiges Fest hat er mir gesagt. Wenn du mich fragst, ist er nicht mehr bei Trost “
„Schlimmeres“, erwiderte Vell, „er ist schwer krank.“
„Das bin ich auch“, stellte Samuel fest, „doch ich bin zu arm, und zu alt, als das mir noch eitle Flausen in den Kopf kommen.“
„Und wenn er stirbt? Was wird dann aus uns?“
„Ich hoffe doch schwer, dass ich es noch vor ihm schaffe“, erwiderte er erheitert, „der Rest hier wird sein Glück schon finden. Und nun entschuldige mich junge Dame, ich muss jetzt noch ein paar Hühner schlachten.“
Erstarrt sah Vell, wie er mit einem großen Beil in der Hand aus dem Stall ging und befand, dass es wohl besser war, ihm nicht zu folgen. Sie war alleine, das hatte sie begriffen. Niemand konnte ihr helfen.
Als Martha am frühen Mittag kam, um das Essen zu bringen, sagte sie daher nichts. Es machte keinen Sinn, sie zu beunruhigen. Davon abgesehen, machte es auch keinen Unterschied. Bald schon würden sie alle am Grab ihres Großonkels stehen und sie fragte sich, auf welche Weise sie von ihm Abschied nehmen wollte. Vielleicht würde sie ab heute mit ihm auf der Terrasse sitzen, oder ihm ab und an eine Geschichte vorlesen. Es war nie zu spät, um mit einem Menschen Frieden zu schließen. Nun hatte sie wenigstens die Gelegenheit dazu.
Doch nicht heute. Heute war ein anderer Tag. Je mehr er sich seinem Ende neigte, desto merkwürdiger wurde er.
Bereits am frühen Abend rollten die ersten Kutschen über den Kiesweg. Sie hielten direkt vor dem Hauptportal. Die Roben der Gäste verbargen kostbare Kleider und die Turmfrisuren der Damen waren auffallend voluminös. Vell hatte die Herrschaften noch nie zuvor gesehen.
„Herrje“, schnaufte Martha. Sie war bereits etliche Male zwischen Spiegel und Fenster hin und her gelaufen und ärgerte sich, dass sie mit Vells Frisur nicht vorankam.
„So kann das nichts werden! “, schimpfte sie, „ du musst dich hinsetzen.“
Lustlos ging Vell daraufhin zum Spiegel und ließ sich auf dem Stuhl davor nieder. Das Gesicht einer schönen, jungen Frau blickte ihr entgegen, gewandet in einem weißen Kleid. Doch in ihren Augen gab es etwas, dass nach Hilfe schrie, etwas, das große Angst hatte.
„Mir ist nicht nach feiern“, stellte Vell fest, „ich denke, ich kann das nicht.“
„Kommt nicht in Frage“, widersprach Marta„ wozu glaubst du habe ich mir all diese Arbeit gemacht? Außerdem wird der Syrer deine Hilfe brauchen, die Gäste dürfen sich nicht langweilen, verstehst du?“
„Ich hab sie ja nicht eingeladen. Außerdem weiß ich nicht, was ich sagen soll!"
„Dir wird schon was einfallen", fand die Dicke, „sonst bist du ja auch nicht auf den Mund gefallen.“
Beunruhigt blickte Vell auf ihr Abbild. Es gab wohl nichts, was ihr all das ersparen würde. Und eine plötzliche Grippe würde ihr Martha nicht abkaufen.
„Kannst du mir noch einmal die alte Geschichte erzählen?“ „Ach Kind, das ist schon so lange her.“
„Erzähl sie mir trotzdem“, bettelte Vell, „nur noch ein einziges Mal.“
„Also gut“, seufzte die Dicke, „wenn du dafür still hältst.
Also damals, als du zu uns kamst, war der ganze Himmel so weiß wie die Wolken. Es hatte wochenlang geschneit. Und es war so kalt, dass ich mich kaum vor die Tür wagte. Du warst noch ein winziges Würmchen, als dich dein Vater zu uns brachte. Du hast in einem Korb gelegen und geschlafen. Dein Vater war ein großer Mann, stattlich und sehr gut aussehend, wenn du mich fragst. Und so traurig wie ich noch keinen Menschen gesehen habe. Er gab deinem Großonkel den Korb und sagte: „Hüte sie wie dein Augenlicht. Sie ist das Einzige, was mir geblieben ist.“
Velura schloss die Augen und versuchte, ihn sich vorzustellen. Immer war es das gleiche Bild und es hatte sich all die Jahre kaum verändert. Wie sie, hatte ihr Vater braunes Haar und grüne Augen. Und jedes Mal weinte er, weil er sie weggeben musste. „Und dann?“
„Dann ist er gegangen“, vollendete Martha die altbekannte Geschichte, doch es war das erste Mal, dass Vell sie als schmerzvoll empfand, „Wieso glaubst du, ist er nie zurückgekommen?“
„Ich weiß es nicht Engel. Er hat den Tod deiner Mutter wohl nie verwunden.“
Schon möglich, dachte Vell. Aber was, wenn er in Wahrheit doch noch lebte? Vielleicht hatte er eine neue Familie gegründet und beschlossen, sie zu vergessen. In Gedanken griff sie sich an den Hals und drückte die Kette.
Sie wusste es nicht. Und im Grunde war es auch unbedeutend. Er war nicht da und sie hatte gelernt, damit zu leben.
Martha war inzwischen mit dem Flechten fertig und steckte ihr weiße Blüten ins Haar.
„Schwarz wäre mir lieber“, kommentierte Vell.
Dieses Fest war schließlich eine Beerdigung. Ein Wunder, dass überhaupt jemand kam, zum einsamsten Ort, den es je gegeben hatte. Doch die Besucher wollten nicht abreißen.
Die Dicke hatte die Hochsteckfrisur kaum vollendet, als Vell abermals von draußen die Pferde hörte. Wieder eilte sie zum Fenster. Sie sah ein schwarzes Gefährt, das die lange Allee entlang kam. Vier Rappen zogen den großen Wagen. Und sie erkannte Egan, der die Gäste gehetzt in Empfang nahm.
Die Tür des Wagens öffnete sich. Als es plötzlich an ihre Zimmertür klopfte. Vell löste sich vom Fenster und nahm schnell die übliche Empfangspose ein. Gerade noch rechtzeitig. Im Türrahmen stand nun ihr Vormund. Auf seinem Haupt thronte seine größte Perücke. Dazu trug er eine blaue Festrobe mit silbernen Manschettenknöpfen.
„Das habt Ihr gut gemacht“, lobte er Martha, „ich bin schon weit gereist und nirgends habe ich je so ein reizendes Mädchen gesehen.“
„Ihr dagegen seht krank aus, Onkel“, erwiderte Vell, „bitte sagt mir, wenn ich irgendetwas für Euch tun kann.“
Seine Miene versteinerte sich im selben Moment, doch er wusste sie geschickt zu überspielen. „Keine Sorge“,
versicherte er, „es geht mir Bestens, und ich erwarte, ein wunderbares Fest zu haben.“ Sein Lächeln wirkte aufgesetzt, genauso wie seine Perücke. Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass er niemals vorhatte, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Beeil dich Martha. Ich will sie in wenigen Augenblicken unten im Saal sehen.“ Dabei zupfte er seine Ärmel zu Recht und wand sich zur Tür.
Vell überkam ein Gefühl der Beklemmung, aber auch Schmerz und Enttäuschung. Nicht mal jetzt konnte er ehrlich sein, jetzt da sein Leben zu Ende ging.
„Und sei höflich“, mahnte Martha, „und niemals vorlaut.“
„Ich kenne meine Rolle“, versicherte Vell, „du hältst sie mir ja jeden Tag vor.“
„Und achte auf dein Kleid! Die Herrschaften werden dich genau beobachten.“
„Sollen sie doch, ich werde sie ohnehin nie wieder sehen.“
„Das kann man nie wissen“, gab die Dicke zu bedenken, „und wehe du machst mir Schande.“ Mit letzten Griffen zupfte sie ihr die Frisur zu Recht und schnürte ihr nochmals das Mieder.
„Das reicht jetzt. Lass mich.“
„Warte!“, rief Martha, „deine Schuhe!“
„Ich kann laufen und jetzt hör endlich auf dir Sorgen zu machen!“
Sie ließ ihre Amme stehen und schlüpfte hinaus in den Flur. Schon von der Treppe hörte sie Stimmen und mit jeder Stufe wurde die Streichmusik lauter. Ihr Großonkel hatte scheinbar an alles gedacht, sogar an das rührende Abschiedskonzert. Im Parterre angekommen, sah sie Diener mit Silbertabletts. Sie transportierten Pfirsichküchlein in drei verschiedenen Sorten. Leichenschmaus, dachte Vell und stopfte sich zwei davon in den Mund. Vielleicht würden sie das flaue Gefühl in ihrem Magen bekämpfen und dafür sorgen, dass sie alles besser ertrug. Heute brannten sogar die Wandlüster und erhellten den langen Gang Richtung Saal. Dort hingen auch die Ölgesichter ihrer Ahnen und verfolgten sie mit emotionslosem Blick. Es gehörte wohl zur Familientradition, unglückliche Leben zu führen und Tante Petsi wollte vermutlich nur aussteigen.
Ein schräges Lachen schallte durch den Flur. Vell sah eine beleibte Frau, die sich zu ihr umdrehte. Statt Haaren, trug sie eine weiße Perücke. Ihr Gesicht entblößte ein schales Lächeln. „Guten Abend“, begrüßte sie das Mädchen.
Vell nickte höflich
„Guten Abend.“ Sie schob sich an der Dame vorbei und betrat den Saal.
Aber wo war sie nur gelandet?
Die Herrschaften waren bepudert, frisiert und trugen ausgefallene Roben mit breiten Krägen. Mit ihren Federfächern kämpften die Damen gegen die Hitze, während die Männer gemeinsam Pfeife rauchten. So viele fremde Gesichter. So viele verkleidete Menschen. Seit jeher kannte sie dieses Schloss nur als einen einsamen Ort. Doch nun war ihr, als hätte sie es noch nie zuvor gesehen
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