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Alt 07.01.2010, 07:02
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Bardin Bardin ist offline
Geschichtenerzählerin
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Ort: wo die Träume flügge werden
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Fortsetzung

Ein sanfter Luftzug streifte ihr Gesicht. Er brachte Frische herein. Ein Hauch von Wald lag darin, dazu ein vertrauter Geruch von feuchtem und gebranntem Ton und dampfendem Essen. Erleichtert schloss sie die Augen und sog ihn gierig ein. Sie konnte spüren, wie ihr Kopf langsam wieder klarer wurde.
Dann richtete sie sich wieder auf und blickte um sich. Ihr Bruder hatte sich abgewendet und schien kein Interesse an dem Geschehen zu haben. Lässig hatte er die Hände in die Hosentaschen gesteckt, selten blickte er sie an.
Dafür schienen sie die kleinen schwarzen Augen der Frau zu durchbohren. Estana unterdrückte ein Schaudern. Kein Gefühl lag in dem Blick, als hätte die Frau Gefühle schon vor langer Zeit aufgegeben.
„Kann es jetzt weitergehen?“
Estana nickte müde.
„Ja…es kann weitergehen.“
Nochmals atmete sie tief ein, als die Frau sich schon wieder umdrehte und voraus lief.
Die Zwillinge folgten ihr stumm. Estana war immer noch etwas zittrig auf den Beinen, fühlte sich aber zunehmend besser. Und ständig tanzte dieser vertraute, heimatliche Geruch vor ihrer Nase, mit kräftigen Atemzügen brachte sie ihn in ihre Lunge, um ja den schrecklichen Geschmack zu vergessen, den die tote Magie hinterlassen hatte. Dabei sah sie Krejan misstrauisch an. Was hatte das zu bedeuten?
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, blieb die Frau stehen und öffnete eine Tür links von ihnen. Erwartungsvoll sah sie die Zwillinge an und machte eine eindeutige Kopfbewegung.
Krejan ging sofort hinein, daraufhin auch seine Schwester. Auf der Stelle knallte die Frau die Tür zu und ihre Schritte entfernten sich.
Estana und Krejan sahen sich erschrocken an. Ein kurzer Griff nach der Klinke beruhigte Estana jedoch, da sich die Tür mühelos öffnen ließ. Erleichtert wandte sie sich ab und blickte sich im Raum um. Er war nicht besonders groß und wie der Gang von einem Dämmerlicht erfüllt. Links und rechtes standen einfache Betten, für die ein dunkler Fetzen Stoff als Laken gedacht war. Mehr gab es in diesem Raum nicht, es war ärmer als arm.
Krejan hatte sich schon auf eines der Betten gesetzt. Er hielt den Kopf in die Hände gestützt und starrte unverwandt die Wand an.
Kjaf war unter seinem Umhang hervorgekommen. Ein paar Mal hatte sie einige Runden im Zimmer gedreht, dann hatte sie sich auf Krejans Bett niedergelassen. Sie schüttelte ihr nasses Fell aus und schmatzte leise, während sie sich putzte.
Langsam ging Estana auf das andere Bett zu und fasste vorsichtig nach der Decke. Es bestätigte ihr nur, was sie sich schon gedacht hatte. Ein grober Stoff auf einem harten Bett. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus, setzte sich aber hin. Das Bett gab unter ihrem Gewicht nicht nach.
Ihr Blick streifte ihren Bruder, der immer noch an ihr vorbei die Wand anstarrte, glitt von einer Ecke zur anderen in diesem kleinen Raum und blieb schließlich an der Tür hängen.
Unsicher biss sie sich auf die Lippe.
Es war in den letzten Tagen einfach zu viel passiert.
Sie schaute kurz zu Krejan hinüber, um dann wieder die kohlrabenschwarze Türklinke anzusehen.
Dann hielt sie die Stille nicht mehr aus.
„Warst du das?“
„Wie?“ Krejan fuhr erschrocken hoch. Erst jetzt schien er seine Schwester wirklich zu sehen. Mit der linken Hand fuhr er sich einmal von vorne nach hinten durch die Haare, mit gespreizten Fingern seine kurzen Strähnen durchkämmend. Eine alte Angewohnheit von ihm, wenn er aus seinen Tagträumen gerissen wurde.
„Ich will wissen, ob du das warst.“
„Ob ich was war?“
„Du weißt ganz genau was ich meine.“
Estana sah nun unverhohlen in die Augen ihres Bruders. Tief sog sie die vertraute Luft ein, die immer noch vor ihrer Nase hing.
„Nein.“
„Oh doch.“
Sein Versteckspiel ging ihr langsam auf die Nerven. Unmöglich, dass die Frau diesen Geruch geschaffen hatte. Nur Krejan konnte es gewesen sein.
„Ja.“ Er sah sie durchdringend an.
„Wie kann das sein?“
„Ich habe geübt.“
„Geübt! Wann?“
Krejan lachte kurz auf.
„Auf der Reise natürlich. Du nicht?“ Jetzt hatte er genau die hochmütige, besserwisserische Miene aufgesetzt, die Estana so sehr hasste.
„Nein.“
„Pech für dich. Schau nur!“
Ein gleißender Blitz durchzuckte das Halbdunkel des Zimmers. Für einen kurzen Moment erstrahlte alles in einem unheimlichen Blau, die leicht feuchten Wände spiegelten das Licht wieder und schienen zu glänzen, die Gesichter der Zwillinge selbst wurden blau, alles wurde anders, unwirklich, wie von einer anderen Welt. Dann war es vorbei, so schnell wie es gekommen war. Estana hatte kaum Zeit Luft zu holen, als schon ein zweiter Blitz zu ihren Füßen niederfuhr und sie zusammenfahren ließ. Das Licht hielt diesmal etwas länger an und gab ihr Zeit, die eindrucksvolle, dunkelblau gerundete Wolke zu erkennen, die sich in der Mitte des Zimmers zusammengebraut hatte. Als auch dieses Licht erlosch, begannen hauchfeine, blaue Strahlen in der Wolke zu zucken. Sie knisterten leise und unruhig. Es wurden mehr und mehr, die sich verknoteten und wieder lösten in einem atemberaubenden Tanz, immer intensiver, immer schneller, bis alles mit einem lauten, abschließenden Donnern in sich zusammenbrach.
Die Stille, die nun folgte, war fast erdrückend. Schwülwarme Feuchtigkeit beherrschte den Raum und drückte auf Estanas Brust. Ihr fiel auf, dass der heimatliche Geruch vor ihrer Nase verschwunden war. Sie wartete auf den Ekel erregenden Gestank und die Übelkeit, die zwangsläufig folgen würde. Aber da war nichts. Die sterbende Magie war verschwunden. Etwas anderes hatte ihren Platz eingenommen, etwas Neues, Lebendes. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es die Magie ihres Bruders sein musste. Ja, es war wirklich Magie, und endlich wurde ihr mit einem seltsamen Erstaunen klar, dass sie, sie beide, nun wirklich Magie beherrschten.
Eine Bewegung in einer Ecke des Raumes riss sie aus ihren Gedanken. Eine kleine Flamme flackerte einsam und verlassen im nicht existenten Wind. Estana lächelte unwillkürlich, so unwirklich war die Situation. Kaum merklich wurde die Flamme größer und größer, und wie sie wuchs, kroch sie weiter in den Raum hinein, bis sie zu einem gemütlichen Feuer geworden war. In einer Stichflamme flammte das Feuer zu einer noch beachtlicheren Größe auf und brach zur Seite aus, so dass sich eine blaue Feuerwand zwischen den Zwillingen formte. Aus den Flammen stieg keinerlei Wärme. Estana zögerte erst, streckte dann aber die Hand aus und langte hinein. Zuerst spürte sie nichts, doch dann begannen ihre Fingerspitzen unangenehm zu kribbeln. Die Magie des Feuers schien sie abzuwehren, und bald prickelte ihre ganze Haut so sehr, dass sie die Hand schnell zurückzog.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete sie Krejan, der sich voll und ganz auf sein Schauspiel konzentrierte. Sie hatte ihn selten so gesehen. Er war meist unruhig und musste immer etwas tun, am liebsten war es ihm, wenn er sich dabei bewegen konnte. Nun saß er hier auf dem Bett, und es war offensichtlich, dass er an nichts anderes dachte als an seine Magie.
Sie schmunzelte innerlich und konzentrierte sich wieder auf das Feuer. Die Wand, die es bildete, war inzwischen kleiner geworden. Sie schrumpfte weiter, bis sie nur noch eine schmale Linie auf dem Boden zeichnete. Dabei zog sie sich zusammen und wurde immer kürzer. Als sie nur noch halb so lang war wie zuvor, fing sie an vorsichtig vorwärts zu kriechen. Dabei wand sie sich wie eine Schlange, beschrieb Bögen und Kreise und malte kleine Muster auf den Boden. Mit der Länge nahm sie es dabei nicht ganz so ernst, manchmal schien sie sich dabei etwas zu dehnen und in die Länge zu ziehen, damit man ihre Bewegung und die Muster auch gut erkennen konnte.
Das Mädchen verfolgte dieses interessiert. Es war erstaunlich zu sehen, wie viel Krejan nach so kurzer Zeit Übung zustande brachte.
Ob sie es wohl auch konnte? Nichts so Angeberisches, Effektvolles. Sondern etwas, das wirklich Können erforderte. Das ihren Bruder beeindrucken würde.
Sie ließ die Augen weiterhin offen, scheinbar seinem Schauspiel folgend. Aber in Wirklichkeit hatte sie sich tief in ihren Körper zurückgezogen, auf der Suche nach der glühenden, pulsierenden Magie in ihrem Innern.
Sie wurde schnell fündig.
Nachdenklich betrachtete sie den bläulichen, flüssig wirkenden Schimmer. Sie wusste: Nachmachen wollte sie Krejan nicht. Es musste etwas anderes sein… etwas, das mehr Können erforderte…
Sie lächelte. Zügig griff sie in die Magie hinein und brachte sie zum Pulsieren. Dann befahl Estana die Magie hinaus. Sie spürte, wie sich eine Magiequelle etwa auf Augenhöhe vor ihrem Gesicht bildete. Sie presste die Augen fest zusammen und konzentrierte sich.
Vor ihrem inneren Auge erschien ein Abbild Kanas. Sie versuchte, sich die Stute so genau wie möglich vorzustellen, doch schnell wurde ihr klar, dass sie sich mit einer Pferdeform würde begnügen müssen. Sie orientierte sich an ihrem Gedankenbild und versuchte, dieses auf die Magie zu übertragen.
Bald entwich ihren Lippen ein Fluch. Durch die Augenlider hindurch spürte sie, wie sich die Magie verformte und Pferdegestalt annahm, als sie ihr Selbst darauf richtete.
Doch die Proportionen stimmten nicht. Ärgerlich bemühte sich Estana, die Beine zu kürzen, den Kopf zu vergrößern, und dabei den Rest des Gedankenbildes im Gedächtnis zu behalten.
Sie hatte sich Magie leichter vorgestellt.
Schließlich gab sie sich zufrieden und öffnete die Augen.
Eine kleine, bläulich schimmernde und durchscheinende Pferdefigur hing vor ihrer Nase.
Estana spitzte die Lippen und blies sie fort. Das Lichtbild torkelte davon und blieb kopfüber in der Mitte des Raumes hängen.
Und genau hinter der Figur konnte Estana ihren Bruder erkennen, der bis über beide Ohren grinste.
Sie hasste ihn dafür.
„Mach mir das erst einmal nach“, murmelte sie verbissen durch die Zähne und schloss wieder die Augen.
Sie musste noch besser werden…
Abermals richtete sie ihr Selbst nach innen. Sie rief sich das Bild eines galoppierenden Pferdes ins Gedächtnis, achtete dabei auf dessen Bewegung und übertrug diese auf das magische Abbild. In ihren Gedanken galoppierte das kleine Pferd mit wehendem Schweif und Mähne elegant in langen Kreisen durch den Raum.
Estana konnte fühlen, wie sich die Magie durch den Raum bewegte.
Langsam öffnete sie die Augen und sah sich um.
Das Pferd glitt gerade knapp unter der Decke durch den Raum. Vor der Wand machte es einen Bogen, kehrte um und galoppierte schräg nach unten, zwischen Estana und Krejan.
Angestrengt starrte Estana ihr Werk an. Ein Teil ihrer Gedanken, so merkte sie, blieb weiterhin auf das Pferd konzentriert und lenkte es, doch dieser Teil schien von den restlichen Gedanken weitgehend gelöst zu sein. Es war ein seltsames Gefühl.
Ihr Blick glitt hinüber zu Krejan. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt, seine Augen folgten dem kleinen Pferd. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden, aber Estana suchte darin vergeblich nach Anerkennung.
Sie seufzte leise.
Das Pferd war inzwischen auf dem Boden angekommen. Krejan bückte sich und griff danach, als es knapp an ihm vorbei rannte. Seine Finger glitten widerstandslos durch die kleine Figur. Er verzog das Gesicht und zog seine Hand eilig wieder weg.
Nachdenklich sah er seine Schwester an. Dann lächelte er und schloss die Augen.
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Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

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Geändert von Bardin (01.03.2010 um 14:42 Uhr)
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