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Alt 12.10.2010, 18:05
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Sodalith Sodalith ist offline
Inspirator aller Magier
 
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Dankeschön. Über Lob freue ich mich immer :-)

Es war schon nach zehn Uhr abends, als mein Vater mir strahlend die Tür zu unserem Wohnzimmer öffnete und den Blick auf den wundervollen Christbaum freigab: Unzählige rote und goldene Kugeln baumelten an den frischen, grünen Tannenzweigen, kleine Kerzen brannten und Wunderkerzen versprühten ihre Funken. So viele Süßigkeiten, dass ich sie niemals hätte alleine essen können, zierten den Baum und auf der Spitze saß ein kleiner, goldener Engel, der auf einer Harfe spielte. Unter den Zweigen der Festtanne türmten sich kunterbunt verpackte Geschenke, die meine Verwandten sogleich auszuteilen begannen. In Fetzten flog das wunderbare Geschenkpapier durch die Luft und Puppenhäuser und Spielzeugeisenbahnen kamen zum Vorschein. Doch was meine größte Aufmerksamkeit erregte, war eine große, zylinderförmige Schachtel, in türkises Seidenpapier verpackt und obenauf eine große, rote Schleife. Das Geschenk war für mich und ich sank langsam auf die Knie und hob den Deckel an. Sofort schoss mir eine kleine, weiße Pfote entgegen und fing meine sauber eingedrehten, dunkelblonden Locken.
Strahlend nahm ich den Deckel ganz ab und eine winzige, rot und weiß gescheckte Kitte schaute mich mit ihren großen, bernsteinfarbenen Augen an, hypnotisierte meine Haare und sprang mich dann an, zog mit meine Spange aus den Haaren und verschwand damit unter den Tisch, wo sie seelenruhig begann, die Beute zu zerlegen.
Ich war zu glücklich, als dass ich mich darüber hätte ärgern können. Meine Wangen waren heiß und rot, mein Herz schlug schnell und ich wollte weinen vor Glück.
Verstohlen lugte das Kätzchen hinter dem Tischbein hervor und miaute leise. Als ich meine Hand ausstreckte, kam es zu mir getrottet, ganz leise, aber keineswegs scheu und rieb das Köpfchen gegen meinen Handrücken. Anschließend kletterte es auf meinen Schoß und rollte sich dort schnurrend zusammen.
„Wir haben eingesehen, dass du nicht immer alleine sein kannst“, sagte mein Vater, kniete sich neben mich und kraulte das Kätzchen.
„Es ist ein Kater“, fügte meine Mutter hinzu und lächelte zufrieden darüber, dass sie das richtige für ihre Tochter gefunden hatte.
„Na, Tiger, wie gefällt es dir hier?“, fragte ich meinen neuen Freund und gab ihm sogleich einen neuen Namen.
Kaum sah ich jedoch auf die Uhr, reichte ich mein Kätzchen Papa und rannte los. Ich hatte fast auf Susi vergessen.
Als ich aus dem Haus stürmte, hörte ich noch das Rufen meiner Familie hinter mir, aber ich reagierte nicht darauf. Momentan war mein Kampfgeist größer als mein Familiensinn.

Keuchend stapfte ich durch den kniehohen Schnee und erreichte bald den Hügel, auf dem ich schon erwartet wurde.
Wir plauderten gar nicht lange über unsere Geschenke, denn wir wollten die Sache schnell hinter uns bringen. Ausgemacht war, dass wir uns zehn Minuten auf dem Friedhof aufhielten. Um das zu überprüfen, waren Bobby und Robin extra gekommen.
Langsam gingen wir den Abhang hinab und betraten das Grundstück. Ein Blick zum Himmel verriet mir, dass Vollmond war. So hell und klar funkelten die Sterne, als wollten sie und bestärken, diese Dummheit zu begehen.
Ziemlich unruhig standen wir da zwischen den Gräbern und schauten uns um. Sascha lehnte lässig an einem Grabstein, Danny war nicht ganz so gelassen. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und warf mir immer wieder einen unsicheren Blick zu. Auch ich fühlte mich nicht wohl, Amy und Susi ebenso wenig.
Vorsichtig warf Amy einen Blick auf ihre Uhr und schüttelte den Kopf, als ich sie fragend ansah.
Die zehn Minuten erschienen mir wie Stunden und als Amy endlich sagte, dass es vorbei war, atmete ich erleichtert auf.
Der Schnee knirschte unter meinen Sohlen, als ich mich dem Hügel näherte. Meine Freunde folgten mir fast so schnell wie ich dem Abhang entgegeneilte, doch plötzlich blieben wir alle gleichzeitig stehen und drehten uns langsam um.
Ein lautes Knirschen und Knacken durchbrach die Stille der Nacht, begleitet von einem grauenhaften, markerschütternden Stöhnen, das von mehreren zu kommen schien. Doch diese waren nicht über der Erde!
Vor Schreck erstarrt konnte ich mich nicht bewegen und meinen Freunden erging es wie mir. Zuerst hatte ich einen üblen Streich vermutet, doch wenn dem so wäre, hätten Bobby und Robin sich nicht aus dem Staub gemacht!
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem ging schnell, flach und unregelmäßig, ich zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte.
Als Amy dann schrie, blieb mir das Herz dann fast stehen.
Als würden Fingernägel am Eis kratzen, klang es und dann brach die oberste Schicht des gefrorenen Wassers und krumme, schwarze Finger stießen an die Oberfläche und krümmten sich, wie gequälte Tiere. Bald konnte man über den ganzen Friedhof verteilt Hände aus dem Boden ragen sehen und dann befreite sich der erste untote Körper aus seinem frostigen Grab und zog sich hoch.
Es war grauenhaft. Halb verwestes Fleisch hing in Fetzen von den Knochen, der Schädel war vollkommen kahl, die Augen nicht mehr als solche zu erkennen, der Kiefer heruntergeklappt, und unter dem schwarzen, verfaulten Fleisch, das sich über die Rippen spannte, konnte man das gesunder Herz schlagen sehen. Mir kam das Abendessen benahe wieder hoch.
Susi, Danny, Sascha und Amy waren über den Friedhof verteilt und trauten sicht nicht, sich zu bewegen. Ich hatte nur das grauenhafte Bild des Skeletts, durch dessen Brustkorb der Mond schien und das Herz als unheimlicher Schatten wirkte.
Der Untote schaute in die Runde und plötzlich begann er in die Hände zu klatschen, zuerst ganz leise und dann laut und fing an herumzuhüpfen, seine Arme und Beine wackelten dazu und auf einmal war das Skelett gar nicht mehr so gruselig, eher lustig.
Nach und nach kamen sämtliche Skelette aus ihren Ruhestätten und begannen zu klatschen und herumzuhüpfen.
Auch meine Freunde wirkten weniger verängstigt.
Auf einmal blieb das erste Skelett stehen und schaute mich verwirrt an.
„Mitmachen!“ rief es, wobei es mich wunderte, wie es das ohne Stimmbänder schaffte, und die Stimme klang hell und pfeifend und als hätte das Gerippe sich eine Überdosis Helium genehmigt.
Es dauerte eine Weile, bis sich mein Körper aus der Schreckensstarre löste, die ganze Sache war so merkwürdig. Je länger ich dort stand und zusah, wie die Skelette tanzten, desto weniger unheimlich erschienen sie mir. Und es sah doch ganz lustig aus, wie da diese Leichen so albern herumhüpften.
Ich lachte und tat es meinen Freunden gleich, die auch schon herumhopsten und sogar mit den Skeletten tanzten. Eines von ihnen hatte begonnen mit den Fingerknochen eines anderen auf seinen Rippen Schlagzeug zu spielen und ein anderes spielte auf einer abgenutzten Gitarre.
So ging es die ganze Nacht, bis die Skelette plötzlich inne hielten und sich langsam wieder in ihre Gräber verdrückten.
Meine Freunde und ich, wir gingen nach Hause und mussten unseren Eltern nicht mal Rede und Antwort stehen, es war ja schließlich Weihnachten.

Recht viel mehr will ich dazu gar nicht mehr sagen, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Wir haben getanzt bis wir nicht mehr konnten und sind dann nachhause gegangen. Als wir am nächsten Abend wiederkamen, warteten die Skelette schon auf uns.
Also verflucht sind die Dinger, aber keineswegs bösartig.
Und nun sitze ich auf dem Hügel und schaue hinunter auf die tausend namenlosen Gräber und kann die Leute nicht verstehen, die sich vor diesem Ort fürchten.
Tiger, mein Kätzchen, streift durchs Gras und fängt ein Blatt, das sich von einem Ast gelöst hat und dann langsam zu Boden gesegelt ist.
Ich lächle. Tausend namenlose Gräber…
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Dort, wo die Fantasie des einen beginnt und endet, dort liegen die Grenzen der Unendlichkeit.

Geändert von Sodalith (16.10.2010 um 15:45 Uhr)
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