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Alt 15.11.2005, 16:58
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Fenni Fenni ist offline
Borussin
Inspirator aller Magier
 
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Die kleine Kammer besaß nur ein winziges Fenster. Es war hoch oben an der Wand gegenüber von der Tür angebracht und nur ein schmaler Streifen Licht fiel hindurch, dass selbst diese kleine Kammer nur notdürftig erhellt wurde. Es gab zwar neben der Tür eine kleine Lampe, aber Soe kannte den Inhalt ihrer kleinen Kammer in- und auswendig und brauchte kein Licht. Auch diesmal griff sie, ohne hinzusehen, ein paar von den getrockneten Kräuter, die an einem Holzbalken hingen, der an der Wand angebracht war und nach zwei Flaschen vom Regal. Sie warf die Sachen in einen kleinen Beutel und wollte die Kammer wieder verlassen, wobei sie mit Janosch zusammenstieß, der immer noch auf der Türschwelle standen und all die fremden Eindrücke und Gerüche auf sich wirken ließ. Als Soe plötzlich vor ihm stand, riss er sich los und ergriff die Gelegenheit beim Schopfe. „Ich möchte gerne auch mit ins Dorf kommen.“
Soe blickte ihn für einen Moment überrascht an und dann lächelte sie. „Ja natürlich. Komm ruhig mit. Ich kann alle helfenden Hände gebrauchen.“
Und so machten Soe, Liy und Janosch sich auf den Weg ins Dorf. Seitdem sich Soe und Andras dazu entschlossen hatten, dass sie, nachdem sie bereits sechs Kinder hatten, kein weiteres mehr zu bekommen und Gerret mit seinen fünf Jahren alt genug war, um mit Collin, Maja und Susann hinunter ins Dorf zu gehen, hatte Soe ihre regelmäßigen Besuche ihrer Patienten im Dorf wieder aufgenommen. Sie wurde überall mit offenen Armen empfangen, häufig wurde sie auf der Straße angesprochen und gebeten, sich einen umgeknickten Fuß, eine schmerzhafte Prellung oder einen juckenden Insektenstich anzusehen, so dass sie immer mehr Zeit brauchte, als sie vorher eingeplant hatte. Auch heute war es wieder so. Nachdem sie nach Katahrins Kind gesehen und festgestellt hatten, dass es ihm gut ging, wurden sie noch von vielen anderen angesprochen und mussten sich viele Blessuren ansehen. Während Soe Kräuter in ihrem kleinen Schälchen zu Brei zerstampfte, Salben auftrug oder Medizin verabreichte und Liy dabei genau erklärte, wofür das alles gut war, beobachtete sie Janosch aus den Augenwinkeln. Er stand immer etwas abseits, so dass er das Geschehen vor sich ideal überblicken konnte und er wandte seine Augen keinen Moment von ihr ab und sie hatte das Gefühl, dass er alles, was er sie tun sah, aufsaugte wie ein kleiner Schwamm. Er schien sogar noch aufmerksamer als Liy zu sein, die ebenfalls eine sehr gelehrige Schülerin war.
Es war schon dunkel, als sie auf den Heimweg machten. Soe ging ein Stück voran und ihre beiden Kinder trabten, ziemlich müde und erschöpft von dem langen Tag, ein Stück dahinter. Nachdem Liy immer weiter hinter ihren Bruder zurückfiel, ergriff sie schließlich seine Hand. „Kommst du morgen wieder mit?“ fragte sie mit ihrer sanften, leisen Stimme. „Mama möchte morgen bestimmt wieder nach Katahrins Kind sehen.“
„Ich würde sehr gerne mitkommen,“ erwiderte Janosch aus tiefstem Herzen. „Aber Mama will mich sicher nicht dabei haben. Ich kann ja gar nichts.“
Liy drückte tröstend seine Hand. „Am Anfang konnte ich auch noch gar nichts, aber Mama hat mir ganz viel beigebracht, dass kann sie ganz toll. Und dir wird sie auch ganz viel beibringen, das macht sie bestimmt.“
Soe, die stetig den Weg zum Haus hinaufstieg und ab und zu einmal nach hinten blickte, ob ihre Kinder auch noch da waren, beschäftigte sich mit ähnlichen Gedanken. Janoschs starkes Interesse hatte sie wirklich überrascht. Aber sie kannte so etwas: Irgendeines ihrer Kinder hatte ständig Interesse an irgendeiner Sache, doch verloren sie diese Interesse auch relativ schnell, weil ihnen irgendetwas anderes in den Sinn kam. Deswegen wollte sie Janosch noch eine Weile beobachten, ob sein Interesse dauerhaft war.
Und es war dauerhaft. Egal, wo Soe hinging, Janosch folgte ihr wie ein kleiner Schatten. Er eignete sich in zwei Wochen mehr Wissen an, als Liy in einem halben Jahr und schon bald ließ Soe ihn unter ihrer Aufsicht Verbände wechseln, Salben anrühren und anwenden und ungefährliche Medizin verabreichen.
Doch Soe haderte immer noch mit sich und schließlich tat sie das, was sie in diesen Situationen immer tat: Sie redete mit Andras. Als sie eines Nachts im Bett lagen und sich, wie sonst auch immer, über die Dinge unterhielten, die sie an diesem Tag erlebt hatten, erzählte Soe ihm die ganze Geschichte. „Also, was meinst du? Soll ich ihn zusammen mit Liy zum Heiler ausbilden? Er hat wirklich Talent, meiner Meinung nach ist er wie geschaffen dafür. Er weiss jetzt schon mehr als Liy. Ich kann schon bald damit anfangen, ihn die Buchstaben zu lehren.“
Andras zog sie in seine Arme. „Du bist so ein kluger Mensch und wenn du dir sicher bist, dass es das Beste für ihn ist, dann tu es einfach.“
Soe nagte an ihrer Unterlippe. „Ich weiss aber nicht, ob es richtig ist. Ich meine, sieh dir Collin und Gerret an. Die beiden machen nichts lieber, als mit dir zusammen durch die Gegend zu ziehen und zu jagen oder zu lernen, mit dem Schwert zu kämpfen. Und Janosch...er steht irgendwie immer abseits davon. Hindert es ihn nicht daran ein...ein Mann zu werden, wenn er sich immer nur um ,Frauensachen’ kümmert?“
Andras grinste in der Dunkelheit, aber da er merkte, wie ernst es Soe war, war er froh, dass sie es nicht sehen konnte. „Mach dir darum keine Sorgen, mein Schatz. Er wird auch ein Mann werden, auch wenn er nicht lernt, mit dem Schwert umzugehen oder mit mir auf die Jagd geht. Jeder ist eben anders und bei Janosch kann man das doch ganz deutlich sehen. Mach ihn zum Heiler, bring ihm die Buchstaben bei, er wird es ihr eines Tages danken.“ Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals und gähnte. „Und außerdem, wie kannst du behaupten, dass das alles ,nur’ Frauensachen sind? Wenn ich sehe, wie du deine Salben und Tränke herstellst und deine Rezepte aufschreibst, bekomme ich ziemlichen Respekt vor dir. So etwas würde ich nicht können.“ Der letzte Satz klang schon wie aus weiter Ferne und kurz danach merkte Soe an Andras’ ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen, dass er eingeschlafen war und nun, dass sie eine befriedigende Antwort auf ihre Fragen erhalten hatte, konnte sie ebenfalls einschlafen. Sie schloss die Augen und schlief ein, ohne noch groß über irgendetwas nachzudenken.

Als sich die Familie am nächsten Morgen im großen Saal zum Frühstück versammelte, sprach Soe Janosch sofort darauf an, als er ihr gegenüber am Tisch saß. „Ich habe dich in den letzten zwei Wochen beobachtet. Du hast wirklich Talent und deswegen wollte ich dich fragen, ob du, zusammen mit Liy, zu einem Heiler werden willst?!“
Janosch strahlte über das ganze Gesicht und nickte heftig. „Ja, ja natürlich will ich das. Sehr gerne sogar.“ Er ergriff über den Tisch hinweg nach Soes Hand und drückte sie fest. „Mama, das ist einfach herrlich....das ist...“ Ihm fielen keine passenden Worte ein, sein Glück zu beschreiben und deswegen flüchtete er sich in glückliches Schweigen, wobei das strahlende Lächeln aber nicht mehr aus seinem Gesicht wich.
Collin, der neben seinem Bruder saß, runzelte die Stirn. „Du willst ein Heiler werden? Aber warum denn?“ rief er völlig entsetzt. „Das ist doch was für Frauen. Warum kommst du nicht mit Papa, Gerret und mir mit. Papa bringt uns sogar bei, mit Pfeil und Bogen zu schießen.“
„Das macht mir keinen Spaß,“ erwiderte Janosch nur.
Collin schüttelte verständnislos den Kopf. „Natürlich macht das Spaß. Du hast es doch noch gar nicht ausprobiert. Warum kommst du heute nicht einfach mit uns?“ Er wandte sich an seinen Vater. „Nicht wahr, Papa, er kann doch heute mit uns kommen, oder?“
Andras, der neben Soe saß, nickte. „Natürlich kann er mitkommen, aber nur, wenn er will. Ich möchte keinen zwingen.“
„Ich gehe lieber mit Mama mit,“ entgegnete Janosch nur und widmete sich seinem Frühstück.
Doch Collins Dickschädel erlaubte es ihm nicht, dass Janosch das letzte Wort in ihrer Unterhaltung behielt und deswegen fügte er noch einmal nachdrücklich hinzu: „Es macht aber wirklich Spaß. Und du kannst es später gut gebrauchen, wenn du ein Tier schiessen willst.“
Janosch blickte Collin ernst an und antwortete mit leiser, aber bestimmter Stimme: „Ich will es aber nicht lernen! Es wird mir auch keinen Spass machen! Und ein Tier möchte ich auch niemals schiessen!“
Damit hatte er alle von Collins Argumente entkräftigt. Daran, dass das Schwert und der Pfeil und Bogen auch dafür gedacht waren, in einem Krieg mitzukämpfen, dass hatte Andras Gerret und Collin noch nicht erzählt und er würde es auch erst tun , wenn die beiden alt genug waren um damit vernünftig umzugehen. Die Juin waren ein friedliches Volk, es hatte schon seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr gegeben und sie waren sich sicher, dass es auch nie mehr einen geben würde, denn der Wald beschützte sie.
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