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Alt 20.12.2009, 15:49
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Bardin Bardin ist offline
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Fortsetzung

Kjaf ruckelte unruhig auf Estanas Schulter hin und her. Sie spürte eine innere Unruhe der Zwillinge. Denn diese wurden langsam nervös. Drei Tage lang waren sie nun geritten, und die ganze Zeit war nichts Aufregendes passiert. Doch heute, so hatte es s’Ochenon ihnen versprochen, würden sie durch einen Teil des Waldes kommen, der von Elfen bewohnt wurde.
Von diesem geheimnisvollen Volk hatten die beiden schon viel gehört.
Sehr zurückgezogen sollten sie leben, und sich von Menschen fern halten. Ihre Magie war angeblich anders, ganz anders als die der Menschen, und nährte sich aus der Natur. Mit dieser Magie hatten sie früher, zu Zeiten gewaltiger Kriege, ganze Heerscharen der Magier besiegen können.
Doch diese Zeiten waren jetzt vorbei. Jedes Volk hatte seinen Platz gefunden, und auch wenn das gegenseitige Verständnis immer noch zu wünschen übrig ließ, so lebten sie doch friedlich Seite an Seite.
Die Zwillinge freuten sich auf die Elfen. Niemand den sie kannten, außer vielleicht s’Ochenon selbst, hatte je eine Elfe zu Gesicht bekommen.
Doch bis sie zu den Elfen kamen mussten sie sich noch gedulden.

Erst am Nachmittag fiel Krejan etwas auf. Er schnupperte.
Ein überdeutlicher Geruch von Wald wehte in der leichten Brise. Die ganze Zeit waren sie durch den Wald geritten und hatten ihn gerochen, doch dieser Geruch war anders. Auf ungewöhnliche Weise… älter. Kejan roch förmlich die mit Moos behangenen Äste der knorrigen Bäume, die feuchte, kaum mit Sonnenlicht beschienene Erde und die letzten verbliebenen Gerüche aller Tiere, die im Laufe der Jahrhunderte in diesem Wald gelebt hatten.
All das erkannte er mit einer Intensität, die ihm fast den Atem nahm.
Unsicher sah er zu seiner Schwester, die ebenfalls verwundert die Nase in die Luft streckte.
S’Ochenon, der immer etwas weiter vorne ritt, drehte sich um.
„Riecht ihr das? Das ist die Magie der Elfen.“
„Das ist Magie?“, fragte Estana verwundert.
Der Seher nickte und sah wieder nach vorne.
„Jede Magie hat ihren Geruch, den aber nur Magier und magische Wesen erkennen können. Ihr werdet euch langsam daran gewöhnen.“
Estana sah ihn zweifelnd an.
„Aber wir sind doch gar keine Magier.“
„Aber ihr habt schon einmal Magie gewirkt, auch wenn ihr es damals nicht bemerkt habt. Und wer das einmal getan hat, an dem geht Magie nicht unbemerkt vorüber.“
Estana nickte langsam.
Krejan sog noch einmal die Luft ein und sah sich dann um.
Ja, sie kamen nun den Elfen immer näher. Und deren Magie hatte die Umgebung verändert.
Das erste was er erkannte war ein kleiner Zweig, zu einer Spirale gedreht. Auf ihn folgten mehrere solcher Äste und ungewöhnlich geformte Blätter. Manche Stämme waren zudem sehr flach. Es wurden immer mehr Seltsamkeiten, bis sie schließlich die Elfen erreichten.
Und nun kamen die Zwillinge aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Der Geruch der Magie war überwältigend, und sie hatte deutliche Spuren hinterlassen, vor allem bei den Bäumen. Den Bäumen, in denen die Elfen wohnten.
Die Stämme waren so dick wie Häuser, mit Fenstern und Türen. Breite Äste hatten sich manchmal auf halber Höhe eng um die Häuser herumgelegt, so dass man diese darauf umrunden konnte. Dünne, nach oben sprießende Zweige bildeten gemeinsam mit einem zweiten Ast das Geländer.
An der rissigen Rinde wuchsen zahlreiche Pflanzen, die die Fensteröffnungen teilweise wie Gardinen überhingen, einige waren sogar mit schmalen Seilen an die Seiten der Fenster zurückgebunden. Auch Blumen hatten sich in Rinde und Geäst angesiedelt, ihr betörender Duft konkurrierte mit dem der Magie.
Dieser Ort war uralt, magisch, und dabei voller Leben. Vögel nisteten in den Ästen, kleine Tiere bewohnten weit oben gelegene Höhlen in den Bäumen, Insekten versteckten sich in den Ritzen der Rinde. All das spürten die Zwillinge mehr als dass sie es sahen.
Denn vor allem betrachteten die Zwillinge die Elfen selbst, die andererseits den fremden Reitern keine Beachtung schenkten.
Obwohl die Elfen die Figur von Menschen hatten, waren sie ganz anders. Sie waren filigraner gebaut, sehr zart, als könnten sie zerbrechen. Hinzu kam ihre helle weiße Haut, die fast durchsichtig war. Sie hatten lange Beine und feine lange Finger. Ihre Augen waren grau, wobei sich der Farbton unterschied. Manchmal war das Grau sehr dunkel und erinnerte an Asche, aber einige hatten auch sehr helle Augen, das Grau war dann kaum noch bemerkbar.
Die Haarfarben reichten von hellblond bis strahlend weiß, es fiel auf, dass Kinder oft hellblonde Haare hatten, während die Haare der Alten immer weiß waren.
Die meisten Kinder spielten mit einem seltsamen Spielzeug: erdbraune Figuren, die sie in allen möglichen Farben aufleuchten ließen.
Die Zwillinge sogen den Anblick mit ihren Augen auf. In kurzer Zeit hatten sie so viele wunderliche Dinge gesehen, dass sie meinten, von nichts mehr überrascht werden zu können.
Aber auf den Platz in der Mitte der kleinen Stadt waren sie dennoch nicht vorbereitet.
Der Platz selber war leer, nur bodennahe Pflanzen bedeckten die Erde.
Und in der Mitte des Platzes stand der seltsamste Baum, den Estana und Krejan je gesehen hatten. Er bestand nur aus einem zur Spirale gedrehten Stamm, dessen Windungen sich in weiten Kreisen gen Himmel reckten. Wie auch die Rinde der Häuser war seine alt und rissig. Während die Oberseite seines Stamms etwas abgeflacht war, wuchsen an der Unterseite viele dunkelgrüne Blätter, die ihn wie Samt bedeckten.
Die Zwillinge starrten staunend hinauf. Das Ende des Baumes konnten sie nicht erkennen.
Sie spürten das Alter und die Würde des Ortes, die schweigende Ehrfurcht gebot, und wagten kein Wort zu sagen. Tatsächlich lag eine eigenartige Stille über dem Platz, die nicht einmal die Vögel störten. Auch Kjaf, die vorher in der Elfenstadt noch so zappelig und aufgeregt gewesen war, dass Estana sie hatte festhalten müssen, war ungewöhnlich still geworden.
Gerne wären sie länger geblieben, doch s’Ochenon ritt unaufhaltsam weiter. So warfen sie noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Baum und folgten ihm.
Bald hatten sie die Stadt verlassen, und nur noch ein schwacher Geruch von Magie und dann und wann ein zur Spirale gedrehter Ast erinnerte an die Elfen.
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Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

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Geändert von Bardin (03.01.2010 um 10:47 Uhr)
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