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Alt 06.01.2022, 17:58
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Cassandra Cassandra ist gerade online
Abyssus abyssum invocat
Ringtraeger
 
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Ort: Faerûn
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Cassandra hockte an dem dicken Eichentisch, der ihr Arbeitszimmer dominierte, stierte ins Leere und hing ihren Gedanken nach. Seit Tagen hatte sie immer wieder diesen seltsamen Traum. Was hatte er zu bedeuten?
Die überall im Zimmer verstreuten Bücher und Schriftrollen deuteten daraufhin, dass sie zwanghaft versuchte, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Was spielte zum Beispiel die Farbe Blau für eine Rolle? Spielte sie überhaupt eine? Konnte man das Neugeborene als eine Art Metapher für etwas Neues, einen Neuanfang interpretieren? Was, wenn ...

Es klopfte.

"Cassandra? Bist du da?"

Himmelarsch!

Sie HASSTE es, wenn jemand sie in ihren Gedanken unterbrach. Selbst, wenn es sich dabei um zahlende Kunden handelte. Konnten sie nicht einfach Goldstücke vor die Tür legen und sich dann wieder verziehen?

Widerwillig stand sie auf und ging zur Tür, an die schon wieder von der anderen Seite gehämmert wurde.

"CASSANDRA! BIST ..."

Sie riss die Tür auf.

"ICH BIN NICHT TAUB!"

Der junge, etwas sehr einfältig wirkende (und auch seiende) Mann, machte einen überraschten Schritt rückwärts.

"Äh - tut mir leid ... Aber - könnt Ihr kommen? Großmutter geht es seit einigen Tagen nicht gut, und heute ist es schlimmer geworden."

"Was heißt 'nicht gut'?" ... Warum muss man diesen Knalltüten immer alles aus der Nase ziehen?!

"Na ja, wir dachten zuerst, sie hat sich eine Erkältung geholt. Hat viel gehustet, wollte nix essen und so ... Dann kam sie nicht mehr aus dem Bett. Sagte, sie fühlt sich nicht gut ..." Er schluckte und fuhr sich nervös durch die Haare. "Und heute morgen war sie blau."

"Du rufst mich, weil Deine Oma besoffen ist?"


"Nein, nicht besoffen. Blau. Ihr Haut hat sich verfärbt. Sie sieht aus ... Na ja, sie sieht fast wie diese Wasserleichen aus, wenn man sie ... äh ... aus dem Wasser gezogen hat. Ihr habt doch sicher schon haufenweise Wasserleichen gesehen, oder? So aufgedunsen, schwammig, und die Haut hat so eine komische weiß-blaue Farbe und der ganze Körper ist ..."

Sie unterbrach sein Geschwafel: "Ich habe schon verstanden. Und was ist sonst noch? Außer, dass sie blau angelaufen ist?"

Cassandra wirkte äußerlich ruhiger, als sie sich fühlte. In dem Moment, als der Schwachkopf vor ihr die Hautveränderung seiner Großmutter erwähnte, war sie innerlich zusammengezuckt, denn sie musste sofort an ihren Traum denken.

"Na ja ... Ihr Haut hat also diese komische Blaufarbe und ihre Stimme ist ... Ich weiß nicht ... anders als sonst. Und sie reagiert auch nicht mehr, wenn man sie anspricht. Aber sie ist wach, weil sie die ganze Zeit herumguckt, als würde sie irgendwas suchen ..."

Cassandra verspürte nicht die geringste Lust, nach der Frau zu sehen, denn das alles machte ihr - auch wenn sie das nicht gerne zugab - Angst. Es klang einfach zu sehr nach etwas, das sich nicht einfach mit ein paar Heiltränken kurieren lies. Es klang nach etwas, das ihr mehr Ärger machen konnte, als sie sich im Augenblick vorzustellen wagte.

Aber - sie war nun mal die Heilerin in diesem Kaff, und als solche war es ihre Aufgabe, sich um Probleme dieser Art zu kümmern. Mit einem Seufzen holte sie ihre Tasche, trat vor ihre Hütte, zog die Tür zu und folgte dem jungen Mann zum Wirtshaus.
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Im Feuer steckt der Funke des Chaos und der Zerstörung,
der Samen des Lebens


("Magic")

(Photo: Franz Herzog © 2004)
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