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Alt 19.11.2009, 09:16
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Bardin Bardin ist offline
Geschichtenerzählerin
Erforscher der Welten
 
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Fortsetzung

S’Ochenon wusste, dass die Zwillinge nicht reich sein konnten. Ihre Kleidung war grob und einfach, und beide waren offensichtlich harte Arbeit gewohnt.
Das Haus entsprach seinen Erwartungen. Der Raum hinter der Tür entpuppte sich als Laden und Werkstatt in einem. Hinten stand in einer Ecke eine Drehscheibe, wohl noch unfertige, mit feuchten Tüchern bedeckte Arbeiten standen auf dem Tisch daneben. Auf den hölzernen Regalbrettern, die sich die Wände entlang zogen, standen etliche Töpferarbeiten, zumeist einfache Gefäße, wie sie nur arme Leute besaßen.
Hinter dem bräunlichen Vorhang am Ende es Raumes befand sich ein schmaler Flur, von dem aus drei Türen abgingen. Zwei davon mussten die Schlafzimmer sein, die er sich extrem eng vorstellte. Durch die dritte führten ihn die Zwillinge in einen kleinen Raum, in dessen Mitte ein Tisch gestellt war. An einer Seite standen ein einfacher Herd und daneben ein niedriges Schränkchen, wahrscheinlich für Töpfe, Essen und Geschirr. Die andere Seite bestimmte ein ziemlich großer Schrank.
Die Eltern saßen gerade am Tisch und redeten. Als sie ihre Kinder und den Magier eintreten sahen verstummten sie. Peinlich berührt standen sie auf.
„Seid gegrüßt, Seher. Es ist uns eine Ehre“, sagte der Vater und verbeugte sich. Er war sehr groß und überragte den Magier um einen halben Kopf.
„Die Ehre ist ganz meinerseits“, antwortete der Magier, „Mein Name ist s’Ochenon.“
„Ramecho“, stellte sich der Vater vor und deutete auf seine Frau, „und das ist Sjewanna.“
Die Zwillinge erröteten leicht als ihnen auffiel, dass sie sich dem mächtigen Magier noch gar nicht vorgestellt hatten.
S’Ochenon wandte sich an sie.
„Und eure Namen…?“
„Krejan und Estana.“
Er nickte und wiederholte die Namen gedanklich.
„Ihr erlaubt doch, dass ich mich setze? Ich habe euch etwas sehr Wichtiges mitzuteilen… es wird wohl etwas dauern. Es geht um eure Kinder.“
Die Mutter sah die Zwillinge vorwurfsvoll an.
„Habt ihr wieder -“
S’Ochenon unterbrach sie: „Ich kann euch versichern, dass sie nichts angestellt haben. Im Gegenteil. Die Nachricht, die ich euch bringe, ist sehr gut.“
Die Eltern blickten ratlos, aber Estanas Augen funkelten wieder. Ihr Bruder stieß sie aufgeregt in die Rippen. Sie setzten sich, beide die Aufmerksamkeit in Person.
Den Eltern war dieses Verhalten nicht entgangen und sie tauschten einen verwunderten Blick. Ihre Gesichter waren einzige Fragezeichen.
S’Ochenon biss sich auf die Lippe und überlegte, wo er anfangen sollte.
„Ich habe vor, eure Kinder als Novizen aufzunehmen“, erklärte er dann knapp.
Diese Aussage verfehlte ihre Wirkung auch bei den Zwillingen nicht und sie zuckten beide zusammen.
Sjewanna schüttelte ungläubig den Kopf: „Da muss ein Irrtum vorliegen.“
„Durchaus nicht. Sie haben beide die Gabe zu Sehern. Und heute ist diese Gabe erwacht.“
Der Vater sah seine Kinder an.
„Es kann unmöglich wahr sein.“
„Doch“, meinte Krejan leise, „ich habe heute sogar schon gesehen… irgendwie.“
„Und was genau?“, wollte s’Ochenon wissen.
„Ich war im Wald, mit meinem Freund… und auf einmal habe ich Stimmen gehört. Ich dachte, sie wären in meinem Kopf:“
„Und wenig später hast du sie wirklich gehört.“
Krejan nickte.
„Ich wollte, dass wir uns verstecken. Das haben wir auch getan… und dann kamen die Räuber vorbei. Es war eine ganze Bande, die da längs zog. Sie haben genau das gesagt was ich gehört habe. Jedes Wort.“
Seine Eltern starrten ihn an.
„Warum hast du davon nichts erzählt?“
„Ich konnte es ja selber nicht wirklich glauben. Außerdem war da noch Estana.“
„Was hat Estana damit zu tun?“
„Ich habe auch gesehen“, entgegnete diese leise, „aber… es war einfach nur unglaublich peinlich.“
„Warst du deshalb so wütend?“
„Ja.“
„Hast du das Gesehene für Wirklichkeit gehalten?“, fragte s’Ochenon.
Estana lachte unwillkürlich auf.
„Ja. Ja, ich habe es für Wirklichkeit gehalten. Ich dachte es wäre tatsächlich ein Dieb, ich bin ihm sogar hinterher gerannt. Aber da war niemand – die Leute haben nur gestarrt und getuschelt!“
„Ich kann mir gut vorstellen, was für eine Erleichterung das für dich gewesen sein muss als du gemerkt hast, dass es später dann doch passiert ist – ich habe dich dort gesehen“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage.
Die Eltern hörten nur ungläubig zu.
„Aber ihr könnt doch nicht einfach gehen!“, meinte der Vater erschrocken.
Die Zwillinge sahen ihn verzweifelt an. Man konnte deutlich sehen, dass diese sich nichts sehnlicher wünschten, als Seher zu werden. Aber ihre Eltern wollten sie nicht alleine lassen – sie wussten nur zu gut, dass diese auf ihre Mithilfe angewiesen waren.
S’Ochenon entging der innerliche Konflikt nicht.
„Sie werden euch nicht zur Last fallen“, erklärte er, „Außerdem sind sie wahrscheinlich bald selbst in der Lage, etwas Geld zu verdienen.“
„Wie sollten sie das tun?“, fragte die Mutter, „Sie sind doch nur Novizen!“
„Auch wenn die Ausbildung länger dauern wird – als Novizen werden sie in der Lage sein, einfache Zauber zu tätigen, und in Snechana gibt es genug Leute, die bereit sind für eine kleine Weissagung zu zahlen. Es ist natürlich nicht viel – aber für die Verpflegung wird auch so gesorgt.“
Und so können sie euch dieses Geld schicken, fügte er in Gedanken hinzu.
Der Satz tat ihm weh. Die Zwillinge hätten genug Gründe, um es selber auszugeben, er würde ihnen etwas Luxus gönnen. Aber ihm war klar, dass sie ihre Eltern nicht im Stich lassen konnten. Es gab keine andere Möglichkeit als diese Lösung aufzuweisen.
Auf allen Gesichtern zeigte sich Erleichterung.
„Wann soll es denn losgehen?“, überlegte die Mutter.
„Ich habe hier noch etwas zu erledigen, aber das geht recht schnell. Es wäre mir recht, morgen früh mit ihnen loszuziehen, zu Sonnenaufgang.“
„Morgen schon!“
Die Eltern waren sichtlich erschrocken.
„Wenn ihr wollt, kann ich auch noch etwas warten.“
„Nein – es geht schon.“ Sie tauschten unsichere Blicke.
„Aber die Reise wird wohl auch etwas dauern, nicht war?“
„Etwas mehr als eine Woche zu Pferd.“
„Wir haben keine-“
„Es wird kein Problem für mich sein, für Pferde zu sorgen.“
„Wirklich nicht?“
„Nein.“
Die Eltern nickten langsam. Dazu gab es nichts mehr zu sagen.
Sie sahen ihn an und der Seher stand auf.
„Ich will nicht länger stören.“
Die ganze Familie begleitete ihn zur Tür und sie verabschiedeten sich.
Stumm sahen sie ihm nach, als er die schmale Gasse entlangging.
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Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

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Geändert von Bardin (07.01.2010 um 16:44 Uhr)
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