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Alt 18.11.2009, 08:17
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Bardin Bardin ist offline
Geschichtenerzählerin
Erforscher der Welten
 
Registriert seit: 11.2009
Ort: wo die Träume flügge werden
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Fortsetzung

Du musst das Ziel mit geschlossenen Augen spüren können.
So hat es mir einmal ein Jäger gesagt.
Ich spanne den Bogen bis zum Anschlag an und blicke auf mein Ziel, eine kleine, schlanke Birke. Ich bin mir sicher, dass ich sie spüren kann. Dann lasse ich den Pfeil los. Sirrend durchschneidet er die Luft und trifft mit einem leisen ´tschock`.
Zufrieden lege ich den Bogen neben den schlafenden Soldaten. Er hat nichts bemerkt, und das ist auch gut so. Was hätte er sonst von mir gedacht? Es ist Nacht, und trotzdem kann ich alles erkennen. Meine Katzenaugen nehmen auch den kleinsten Rest des Lichts auf.
Ich blinzle einmal in die schmale Mondsichel und trabe davon. Der Waldboden dämpft die Schritte meiner Hufe. Die Baumkronen rauschen leise im Wind. Es ist sehr still, nur manchmal höre ich den Ruf einer Eule, und ein kleines Tier verschwindet raschelnd im Gebüsch.
Die Luft riecht nach Tannennadeln und feuchter Erde. Die Bäume stehen dicht und manche haben tief hängende Äste, die ich mit meinen Armen zur Seite streichen muss.
So trabe ich lange Zeit. Das Lied eines Vogels in der Ferne sagt mir schließlich, dass bald die Sonne aufgehen wird. Ich bleibe kurz stehen und blicke mich um. Der Wald beginnt sich zu lichten. Als ich noch weiter gehe, endet der Wald ganz und ich stehe auf einer großen Wiese, nass vom Tau.
Ich kann der Versuchung nicht widerstehen und galoppiere in großen Sprüngen über die Wiese. Solche unbeobachteten Augenblicke auf freier Fläche sind selten genug. Ich lasse mir den Wind ins Gesicht blasen und spüre, wie meine Haare im Wind flattern.
Schließlich bleibe ich stehen, etwas außer Atem. Die Pupillen meiner Katzenaugen werden langsam zu schmalen Schlitzen, als sich die Sonne über den Horizont wagt. Ich lasse sie zu menschlichen Augen werden.
Dann blicke ich in den wolkenlosen Himmel, der einen herrlichen Tag verspricht. Die ersten Vögel flattern durch die Luft. Sehnsüchtig schaue ich ihnen nach.
Ich muss gar nicht wirklich nachdenken, mein Körper handelt wie von selbst. Aus meinen ausgestreckten Armen sprießen braune Federn, die größer und größer werden. Mein Pferdeleib schrumpft, und dass fuchsbraune Fell wird ebenfalls zu dunkelbraunen Federn. Ich spüre, wie meine mächtigen Hufe sich in kräftige, aber zierliche gelbe Vogelfüße verwandeln.
Ich breite probeweise meine Schwingen aus und ärgere mich über meinen menschlichen Kopf, bei dem nur die Augen an einen Adler erinnern.
Doch dann kann mich nichts mehr halten. Ich breite meine Flügel aus und schwinge mich in die Luft, der neuen Sonne entgegen.
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Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

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