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Alt 17.11.2009, 18:23
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Bardin Bardin ist offline
Geschichtenerzählerin
Erforscher der Welten
 
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Fortsetzung

Estana drängte sich durch die Masse vor, die sich vor dem Stand mit den Pelzen gebildet hatte. Eine Frau trat schimpfend zur Seite, doch das Mädchen beachtete sie nicht.
„Leona!“
Ihre Freundin drehte sich um, in der einen Hand ein Stück weißen Pelz.
„Ich muss selber noch etwas besorgen. Wir treffen uns an der Kreuzung!“
Leona nickte und hob die Hand zum Abschied.
„Bis später!“
Sie blickte dem schwarzen Lockenschopf hinterher, der sich energisch einen Weg durch die Menge bahnte. Estana galt als höflich, aber entschlossen, wenn sie ein Ziel vor Augen hatte.
In diesem Fall war ihr Ziel ein kleiner Stand etwas abseits, an dem eine Vielzahl von Messern angeboten wurde. Dahinter stand ein alter Mann mit langen, grauen Haaren.
Prüfend glitt ihr Blick über blitzende Klingen und kunstvoll gearbeitete Griffe.
„Sind die alle selbst geschmiedet?“
Der Mann horchte auf und blickte sie erstaunt an. Leicht verlegen hob er eine Hand an sein Ohr.
„Ich fragte: Selbst geschmiedet?“, wiederholte Estana geduldig etwas lauter.
Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Ich verkaufe nur meine Sachen“, nuschelte er durch die Reste seiner Zähne.
Estana hob eine Braue. Der Mann sah ungeheuer mager und gebrechlich aus, nicht in der Lage einen Schmiedehammer zu heben.
Aber die Messer gefielen ihr - sie wollte eines für sich, da sie ihren alten Dolch verloren hatte.
Ihr Blick fiel auf einen kleinen Dolch, dessen Griff die Form aneinander gelegter Flügel hatte, abgeschlossen wurde er durch einen Drachenkopf. Das Metall war grob gearbeitet und fast schwarz, die Augen des Drachen aber waren blank geputzt und blitzten in der Sonne, ebenso wie die Klinge. Als Estana sie prüfte, schnitt sie sich leicht in den Finger. Sie verzog das Gesicht.
„Gefällt es dir?“
Sie sah den alten Schmied an. Nach kurzem Überlegen holte sie ihren Geldbeutel hervor.
„Wie viel kostet der Dolch?“
„Zehn Kupferlinge.“
Estana stutze und starrte ihn ungläubig an. Das war ein Hungerlohn, fraglich, ob er alleine den Wert des Metalls entsprach. Von so etwas konnte kein Mensch leben.
Der Mann musste ihre Gedanken erahnt haben.
„So viel und nicht mehr. Du musst dir keine Sorgen machen.“
Sie lächelte unwillkürlich, zahlte aber trotzdem mehr. Ihr Blick ließ dabei keine Widerrede zu.
„Soll ich ihn einpacken?“, fragte der Mann und griff schon unter die Theke.
Das Mädchen errötete leicht, als sie sich bewusst wurde, dass die Lederscheide ihres alten Dolches immer noch an ihrem Gürtel hing. Sie hatte sich davon nicht trennen können.
„Nein, nein“, murmelte sie verlegen, „Ich stecke ihn gleich ein.“
Mit diesen Worten griff sie nach ihrem neuen Dolch und ging weiter.
Mit zügigen Schritten steuerte sie nun auf die Kreuzung zu, an der sie sich mit Leona verabredet hatte. Estana meinte schon, zu spät zu sein, stellte aber fest, dass diese immer noch nicht da war. Sie lehnte sich an eine Hauswand und wartete.
Es dauerte einige Zeit, bis ihre Freundin endlich auftauchte. Das ergatterte Stück Pelz hatte sie in einen Beutel gesteckt, einige Strähnen ihrer blonden Haare hingen ihr lose ins Gesicht. Sie hatte sich beeilt.
„Also gut, ich hab’s endlich geschafft. Gehen wir jetzt weiter?“
„Du hast es heute aber eilig.“
„Gar nicht. Aber ich will möglichst viel gesehen haben bevor er wieder vorbei ist.“
„Also hast du es eilig“, schloss Estana kompromisslos, „Wo möchtest du denn als nächstes hin? Ich habe alles was ich brauche.“
„Ich eigentlich auch. Aber komm, bummeln wir noch ein bisschen.“
Sie nahm Estana am Arm und zog sie mitten in die Menge hinein. Diese fügte sich, sie kannte Leonas Begeisterung für den Markt. Vor dem Ende war sie nicht davon wegzubringen.
Als sie gemütlich an den Ständen vorbeischlenderten, erregte ein Schmuckstand ihr Interesse. Feine Arbeiten glänzten verheißungsvoll in der Sonne. Alles war liebevoll drapiert, und die rundliche Frau dahinter lachte die jungen Gestalten freundlich an.
~~~
Während sich die Mädchen den Schmuck anschauten, glitt der geübte Blick der Verkäuferin über die Gegensätze, die vor ihr standen.
Leona, mit ihrer blonden glatten Haarpracht und Augen blau wie das Meer, galt überall als Schönheit. Sie war zudem sehr groß und hatte lange, schmale Finger.
Estana, obwohl nicht hässlich, war in ihrem Aussehen etwas eigenwilliger. Ihre Gesichtszüge waren markant und wurden von einem wirren schwarzen Lockenschopf umrahmt. Sie war ebenfalls groß, aber sehr viel kräftiger, mit dunklerer Haut und gröberen Händen, die auch harte Arbeit gewohnt waren. Ihre warmen braunen Augen waren das einzig mädchenhafte an ihr.
Das hielt sie aber nicht davon ab, auch Gefallen an Schmuck zu finden. Eine kurze, goldene Kette mit grünen Steinen gefiel ihr besonders gut. Sie legte sie sich probeweise um den Hals und betrachtete sich in dem bereitgestellten Spiegel.
Leona hatte sich inzwischen einen breiten Silberring an den Finger gesteckt, ihre Ohren schmückten lange tropfenförmige Steine. Mit einem Finger strich sie bedächtig durch die lange Reihe der Armbänder. Ihre Begeisterung für den Markt wurde nur von ihrer Begeisterung für Schmuck übertroffen.
~~~
Estana musste bei dem Anblick etwas schmunzeln. Die Stücke gefielen ihr und die Kette könnte sie gut zu besonderen Anlässen tragen, im Alltag hielt sie Schmuck jedoch für unpraktisch. Leona dagegen konnte nur selten ohne Kette oder zumindest einen Ring angetroffen werden.
Estana warf noch einmal einen Blick in den Spiegel, legte dann aber die Kette wieder zurück. Leona allerdings war vom Kauf nicht abzuhalten, sie entschied sich für die Ohrringe.
„Kommst du jetzt endlich?“, fragte Estana ungeduldig.
„Gerade hast du noch gesagt, dass ich es eilig habe.“
„Ja klar, aber jetzt habe ich Hunger!“, verkündete Estana fröhlich und deutete zu einem Stand, von dem ein süßlicher Geruch ausging, „Willst du denn nichts? Die haben bestimmt auch Makanüsse.“
Leona sog den verführerischen Duft genüsslich ein. Gegen etwas zu Essen hatte sie nichts einzuwenden.
Die Freundinnen reihten sich in die Schlange der Wartenden ein. Es ging zügig voran und bald verließen die beiden den Stand mit je einer dampfenden Schüssel in der Hand.
Nicht weit entfernt fanden sie eine leere Bank und setzten sich.
„Wo ist eigentlich Kjaf?“, wollte Leona wissen, während sie sich einen Löffel in den Mund schob, von dem die blaue Früchtesoße hinuntertropfte.
„Ich vermute mal, sie ist bei Krejan“, überlegte Estana, „Du weißt doch, dass sie bei so vielen Menschen immer durchdreht.“
„Ich hätte nie gedacht, dass Fliesel so zahm werden.“
„Sie ist so anhänglich wie ein Welpe. Außerdem kann sie Gedanken lesen, sie weiß, dass wir ihr nichts tun.“
„Gedanken lesen hin oder her, ich bleibe dabei, sie sieht aus wie eine Fledermaus mit Katzenkopf. Wie könnt ihr eine Fledermaus mit Katzenkopf in eurem Haus halten?“
„Sie ist nur selten in unserem Haus. Dafür ist sie immer noch zu wild. Außerdem verlangt niemand von dir, sie selbst zu halten.“
„Glaube mir, ich bin nur froh darüber.“
Dazu schwieg Estana. Sie fand das Fliesel mit dem samtig schwarzen, blau gepunkteten Fell eigentlich sehr schön. Die gelben Augen faszinierten sie – kein Tier der Welt konnte so schauen wie ein Fliesel. Obwohl die Pupillen fehlten, konnte sie inzwischen jede Regung ihres Haustieres erkennen. Der Gelbton der Augen veränderte sich leicht und bildete manchmal sogar zarte Muster.
In Gedanken versunken nahm sie einen weiteren Löffel in den Mund und blickte um sich.
Auf einmal zuckte sie zusammen. Der Bissen blieb ihr im Halse stecken und sie musste husten. Ihre Augen tränten, aber sie konnte sie nicht von dem Anblick loslassen, der sich ihr bot.
Eine graue, durchscheinende Gestalt schob sich durch die Menschen. Sie benahm sich betont unauffällig, wären ihre Umrisse nicht so verschwommen, hätte Estana sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Es war unmöglich zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Keiner der umstehenden Personen schenkte der Gestalt Beachtung, und so konnte sie unbemerkt bis zum Schmuckstand vordringen.
Estana wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt. Leona klopfte ihr auf den Rücken, aber das nahm diese kaum war. Der Platz vor ihr war zwar einigermaßen frei, trotzdem behinderten einige Menschen ihre Sicht. Sie beugte sich etwas zu Seite, um die Gestalt besser sehen zu können. Dann hatte sie die seltsame Gestalt wieder gefundenen, sie war direkt vor dem Schmuckstand. Estana kniff die Augen zusammen, noch immer konnte sie nichts Genaues erkennen. Es reichte aber, um eine immer wiederkehrende Bewegung in Richtung des ausgestellten Schmuckes zu sehen. Estana sog die Luft ein und musste noch einmal husten.
„Geht es dir gut?“, fragte Leona besorgt.
Estana nickte und blinzelte die Tränen weg.
„Siehst du das denn nicht?“
„Was soll ich denn sehen?“
„Na, diese seltsame Gestalt vor dem Schmuckstand. Es ist bestimmt ein Dieb!“
Leona verrenkte sich etwas, als sie zu dem Stand blickte.
„Ich erkenne nichts.“
„Da unter dem Baum… er steht direkt im Schatten. Ich bin mir sicher, dass er stiehlt!“
Ihre Freundin sah noch einmal zum Schmuckstand und blickte dann zu Estana.
„Und du bist wirklich sicher, dass du überhaupt jemanden siehst?“, meinte sie zweifelnd.
„Habe ich dich jemals belogen?“ In Estanas Stimme schwang ein beleidigter Ton.
„Nein, natürlich nicht“, erklärte Leona beschwichtigend und warf noch einen vielsagenden Blick auf Estana.
Der entging dem Mädchen nicht. Wütend stand sie auf und stellte ihre Schüssel auf die Bank
„Und ich sage dir, da ist ein Dieb und niemand bemerkt ihn!“
„Außer dir“, merkte Leona trocken an.
Das war zu viel. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Estana um und stiefelte davon, im Visier die eigenartige Gestalt.
Die war noch immer beschäftigt. Aber dann blickte sie zur Seite – sie musste jemanden gesehen haben, denn mit einem Mal rannte sie fort.
Estana zögerte keinen Augenblick und rannte hinterher.
„Haltet den Dieb!“, rief sie, „Haltet ihn!“
Die Leute um sie herum blickten sie erstaunt an. Keiner rührte sich.
„Da rennt er!“, rief Estana nochmals, aber wesentlich leiser als zuvor.
Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und es war eigenartig still geworden. Estana meinte, die Leute in ihrer Nähe tuscheln zu hören.
Die Gestalt war schon längst fort. Wenn sie überhaupt existierte. Auf einmal wurde Estana bewusst, dass sie sich zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gemacht hatte. Vor Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken.
Geistesgegenwärtig preschte Leona vor und zog ihre Freundin hinter sich her bis zu einer kleinen Seitengasse.
„Was ist los mit dir? Warum machst du so etwas?!“
Estana starrte sie nur trotzig an. Ihr fiel keine vernünftige und glaubwürdige Erklärung ein.
„Sag doch was! Du bist doch sonst nicht so.“
„Ich kann es dir nicht erklären“, beharrte Estana, „Du würdest mir sowieso nicht glauben.“
„Du willst mir also wirklich weismachen, dass du diesen Dieb gesehen hast?“
„Ja.“
Leona lachte verwirrt. „Den Dieb gibt es nicht.“
„Und ob es ihn gibt!“
„Na klar, und nur du kannst ihn bemerken.“
Die Worte fielen schärfer aus als sie beabsichtigt hatte, und Estana zuckte zusammen.
„Du musst es mir nicht glauben, es wäre nur besser so. Verrückt bin ich nicht!“
Leona blieb keine Zeit für eine Antwort, denn Estana riss sich los und ging vor Wut kochend davon. Bald war sie im Labyrinth der Gassen verschwunden.
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Allein die Existenz von irgendetwas ist das größte Wunder; die Materie, die sich selber formt, das größte Geschenk; die Materie aber, die auf sich selbst herabblickt und denkt, das größte Paradoxon.

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Geändert von Bardin (22.11.2009 um 10:30 Uhr)
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